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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein
Autoren: Mary Mackey
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Traumland. Tag und Nacht verschmolzen ineinander. Der Himmel bewegte sich über der Trage immerzu, und Inanna verlor bald jeglichen Orientierungssinn. Sie glaubte, die Toten würden zu ihr kommen: Enkimdu, Lilith, die alte Königin, Lyra, Alna und sogar ihre richtige Mutter, Nintu mit den grünen Wolfsaugen und den rosafarbenen Brustwarzen, die sich über sie beugte und ihr eine kühle Hand auf die heiße Stirn legte.
    Manchmal glaubte Inanna, wieder ein Kind zu sein. Sie schlug mit ihrer kleinen Axt Feuerholz, spürte das nasse Gras unter den naccten Füßen und hörte das Blöken der Ziegenherden. Die Berge waren kühl und ruhig, und sie stellte sich vor, ihr Leben wäre wie sie: fest und unverrückbar. Andere Male sah sie sich in der Lederrüstung. Sie schleuderte einen Speer in einen Strohballen und freute sich an der Kraft ihrer Arme. Dann stand vor ihr eine Weide, und sie sah zu, wie der Baum in rascher Folge gemäß dem Wechsel der Jahreszeiten sein Gesicht veränderte. Von Knospe zu Blatt, von der Blüte zum nackten Ast. Und sie verstand, daß ihr Leben ein Kreis im ständigen Wandel war, in dem sie immer wieder an den gleichen Punkt zurückkehrte.
    Dann wachte sie auf und fand sich auf der Trage wieder. Die heiße Sonne brannte gnadenlos auf ihr Gesicht herab, der Schmerz bohrte unverdrossen in ihr, und sie krächzte nach Wasser; und darüber versank sie wieder in ihren Träumen, meist in den, den sie zum erstenmal nach Liliths Tod gehabt hatte.
    An einem Tag, der irgendwann war und zu keinem anderen in Beziehung zu stehen schien, erwachte sie kurz vor Sonnenuntergang. Als erstes bemerkte sie, daß es kühler geworden war.
    »Du bist wach«, sagte Seb.
    »Ja.«
    Er gab ihr gesüßten Wein, und sie trank durstig. Am Himmel funkelten die ersten Sterne. Die Zikaden zirpten im hohen Gras ihr monotones Lied. Inanna spürte die Friedlichkeit dieses Abends, die sich wie eine Decke über sie senkte. Bald schloß sie die Augen wieder und sank in einen traumlosen Schlaf.
    Die ganze Nacht hindurch stolperten die Soldaten durch die DunDunkelheit trugen die Trage über den steinigen Weg. In der Morgendämmerung machten sie Rast. Inanna erwachte. Ihr Kopf war klar, und der Schmerz hatte erheblich nachgelassen. »Seb.«
    »Ja?« Er war sehr blaß.
    »Wo sind wir?«
    »Im Vorgebirge.«
    »Hilf mir hoch, ich möchte die Ebene sehen.« Sie sah hinunter auf den pflaumenfarbenen Fluß und auf die weißen Mauern der Stadt. Im frühen Morgenlicht waren die schwarzen Zelte der Nomaden nur Schatten, jedes kaum größer als ein Kiesel, aber buchstäblich überall: entlang den Wassergräben, unter den Dattelpalmen, am Flußufer und rund um die Stadt. Rauch stieg in vielen tausend Fahnen zum Himmel und beschmutzte ihn. Wie bei dem großen Lager am Berg Kur. Mehr Zelte als Sterne.
    »So viele.« Aus Sebs Stimme klang fast so etwas wie Ehrfurcht. In diesem Augenblick stieg die Sonne über die Gipfel und ihre ersten Strahlen trafen die Stadtmauern. Ein Kreis in einem größeren und darum der gewaltige Kreis der Nomadenzelte. Die Stadt wirkte schöner als je zuvor.
    »Seb«, bat Inanna, »bring mich nach Hause.«
    »Nein.« Er klang böse. »Sieh doch selbst hin. Die schwarzen Zelte stehen so dicht beieinander, daß nicht einmal ein Hund unbemerkt zwischen ihnen hindurchkäme.«
    »Ich sterbe, Seb.«
    »Sei jetzt still.«
    Sie erinnerte sich an das kleine Tor, das die Lant ihr vor langer Zeit gezeigt hatte. »Ich kenne ein Geheimtor am Fluß. Bitte.« Er wandte sich ab und sah grimmig auf die Nomadenzelte. Dann gab er den Soldaten das Zeichen, die Trage wieder aufzunehmen.
     
    Das Boot war wie eine große Tasse aus Schilfrohr, war mit Leinen bespannt und mit Pech bestrichen. Inanna lag auf dem Boden und lauschte den Geräuschen vom Ufer. Nomadenkinder spielten, Kochtöpfe klapperten und irgendwo blökte immer ein Tier. Der Geruch von kochendem Hammelfleisch zog wie eine Wolke über das Wasser. In irgendeinem Zelt fing jemand an, auf einer Flöte zu spielen. Inanna erkannte die Melodie wieder. Sie hatte einmal dazu getanzt, vor langer Zeit, auf Liliths Hochzeit. Plötzlich mußte sie husten. Seb stopfte ihr einen Lappen in den Mund.
    »Pst!« fuhr er sie an und nahm ihre Hand. Schatten von schwarzen Zelten trieben vorüber. Wachtposten patrouillierten am Ufer. Ein Strudel. Hoffentlich sehen sie uns nicht. Das runde Boot drehte sich im Wasser, bis Inanna davon schwindelig wurde. Dann ragte mit einemmal der äußere Wall der Stadt vor ihr
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