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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein
Autoren: Mary Mackey
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Dunkelheit. Rheti griff hastig danach. Ihre Hände hatten sich um ein kleines Insekt mit einem harten Panzer geschlossen. Ein Käfer oder sonstwas. Sie schob sich die Beute in den Mund und kaute darauf herum. Seit einer ganzen Woche, seit der Eunuch gestorben war, hatte sie nichts mehr zu sich genommen bis auf eine Eidechse, die den Fehler begangen hatte, zu neugierig gewesen zu sein. Doch das lange Fasten hatte ihre Sinne geschärft. Und jetzt spürte sie auch die Seele des Wesens, das sich Inanna nannte und anschickte, diese Welt zu verlassen.
    Rheti setzte sich bequemer hin und wartete auf den endgültigen Tod des Wesens. Sie besaß eine starke Seele, war aber noch sehr jung und ungestüm; so leicht ließ sie sich hinters Licht führen und übertölpeln. Bis auf einen einzigen, unbedeutenden Sieg, hatte Rheti das Wesen jedesmal besiegen können. Aber sie wußte, daß es beim nächstenmal ungleich schwieriger sein würde. Die Seele des Wesens würde wiedergeboren und dann besser wissen, wie sie sich gegen Rheti und das Böse zu schützen hatte. Dabei war das Böse die wahre Bestimmung allen Lebens, nur versperrten die Menschen die Augen davor.
    Was würde als nächstes geschehen? Rheti schloß ihre blinden Augen und saß lange Zeit regungslos da. Ihr Geist drang in die dunklen Zonen vor, in denen alle Dinge geboren wurden. Über die Wüste blies der Wind und modellierte den Sand zu bizarren Skulpturen. Und nach einigen Stunden zeigte sich das erste Grau am östlichen Himmel. Endlich öffnete Rheti die Augen wieder und war zufrieden. Sie hatte in den Korb der Zukunft gesehen, und jetzt wußte sie, welche Fehler das Wesen in seinem nächsten Leben machen würde. Die gleichen wie in diesem Leben, denn die verfolgten es unerbittlich. Den eigenen Bruder zu töten war der schlimmste Fehler von allen gewesen. Rheti dachte mit Heiterkeit daran, wie oft das Wesen wiedergeboren werden mußte, bis es diesen Makel von sich abgewaschen hatte. Und noch mehr erfreute es sie, wie sehr ihre eigene Macht durch diesen Fehler gewachsen war.
    »Sie, die ihr eigenes Blut tötete, wird von ihrem eigenen Blut getötet werden«, sang Rheti. »Sie, die ihren Geliebten betrog, wird von ihm betrogen werden.« Ihre Stimme war rauh und ähnelte mehr dem Quaken eines Froschs als einer menschlichen Zunge. Aber das verdroß sie nicht, und sie sang vor sich hin und wiederholte endlos diesen Vers. Dann hörte sie damit auf, und ein langes Schweigen trat ein, das nur vom Blasen des Windes über zerklüftete Felsen unterbrochen wurde.
    Irgendwann später fiel Rheti irritiert auf, daß der Tod noch immer nicht eingetreten war. Das Wesen besaß mehr Widerstandskraft, als sie erwartet hatte. Und schlimmer noch, irgend etwas führte Inanna zusätzliche Kraft zu, hielt sie immer wider vor dem entscheidenden Moment zurück. Rheti verwünschte diese Verzögerung. Der Wind ließ deutlich nach und die Wüste heizte sich auf. Bald würde die Sonne aufgehen und die Dünen um Rheti herum in Backöfen verwandeln. Als sie in der letzten Nacht diese geschützte Stelle aufgesucht hatte, war ihr der nächste Morgen gleich gewesen. Sie wollte mit dem Wesen weit vor Tagesanbruch gestorben sein, wollte Inanna mit sich ziehen, um mit ihr wiedergeboren zu werden und wie ein Dorn in Inannas Seele zu wohnen. Aber Rheti hatte nicht mit diesem Lauf der Dinge gerechnet. Wenn sie zu bald schon von der Macht der Sonne getroffen wurde, war nicht auszuschließen, daß sie vor Inanna starb. Damit würde ihre Macht über die junge Königin vergehen. Dann würde die Verbindung zwischen ihnen zerbrochen sein. Vielleicht für immer.
    Sie legte sich auf den Bauch und krabbelte los. Ihr alter Körper scharrte über den Sand. In ihrer Hast riß sie sich einen Daumennagel aus, aber der Schmerz machte ihr nichts mehr aus. Ihre Finger schlossen sich um einen Stein. Sein Rand schnitt in ihre Handfläche. Ein Stück Flintstein, scharf wie ein Messer. Gut. Ihr Glück hatte sie noch nicht verlassen.
    Rheti rollte zur Seite und spürte die ersten Hitzeschwaden, die aus dem Sand stiegen. Die Sonne mußte bereits am Horizont erschienen sein. Rheti war zu schwach, sich aufzusetzen, aber das war auch gar nicht mehr nötig.
    Sie schlitzte sich den Arm auf, bis ein Blutrinnsal hervortrat. Ihr Körper war alt, und das Blut kam nur langsam, aber selbst eine kleine Menge würde nun ausreichen. Mit dem Blut konnte sie sehen, was in der Stadt vor sich ging. Rheti schmierte sich die dicke Flüssigkeit auf die
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