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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein
Autoren: Mary Mackey
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Wie seltsam alles aus diesem Blickwinkel aussah. Einmal stieß die Trage gegen etwas, und Inanna biß sich auf die Unterlippe, um vor Schmerz nicht laut zu schreien, aber die meiste Zeit über nahm sie nur eine Art Taubheit in sich wahr. Dann ließ Seb die Soldaten anhalten, damit sie rasten konnten. Er legte ihr in bestimmten Abständen nasse Tücher auf die Stirn, aber das nutzte nichts, denn ihr wurde ständig heißer.
    »Nicht mehr lange, dann haben wir das Hauptlager erreicht«, erklärte Seb. »Gleich hinter dem nächsten Höhenzug.«
    »Leg mich in den Bach«, bat Inanna. »Mir ist so heiß. «
    »Nein.« Seb wandte sich mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck von ihr ab. Etwas später blieben die Träger stehen. Seb hob Inanna hoch. Eine dicke schwarze Rauchfahne wuchs über die Hügelkette in den Himmel. »Da, Inanna, die Lagerfeuer unseres Lagers.« Er küßte sie, wischte ihr mit einem feuchten Tuch über die Stirn und befahl dann den Soldaten, die Trage wieder aufzunehmen. »Bald wirst du dich besser fühlen«, sagte er und versuchte zu lächeln. Aber seine Augen waren so traurig, daß man ihm keine Freude abnehmen konnte.
    »Der... der Rauch«, brachte Inanna unter großen Schwierigkeiten hervor. Sie zeigte auf die schwarze Spirale.
    »Was ist denn?« Seb beugte sich zu ihr hinab, um sie besser verstehen zu können. Inanna hustete und wollte sich aufsetzen. Das war kein Rauch, sondern etwas anderes, etwas Böses. Sie hatte das Gefühl, solch eine Spirale vor langer Zeit schon einmal in einem Traum gesehen zu haben. Was beunruhigte sie so? Was war das Böse? Dann erinnerte sie sich wieder an den Traum; an das schneekalte Rauschen an ihren Wangen.
    »Was ist denn?«
    »Vögel.« Das Wort war wie ein Fels, und nachdem Inanna es ausgesprochen hatte, sank sie betäubt im Gefühl der vollkommenen Niederlage zurück. Seb starrte zu den Hügeln, betrachtete die schwarze Spirale und verlor alle Farbe aus dem Gesicht.
    »Große Göttin, du hast recht«, keuchte er. »Das ist kein Rauch, das sind Schwärme von Geiern.«
     

VIII
    Die Trage schaukelte bedenklich, als die Soldaten zu rennen begannen. Inanna klammerte sich an die beiden Stangen, um nicht hinauszufallen. Blauer Himmel, ein Zedernwipfel, ein dünner Pflaumenast mit zarten grünen Blättern. Sie hörte nun trotz des Keuchens der Träger die Schreie der Vögel. Ein unangenehmes, hohes Kreischen. Und jetzt auch das Rauschen vieler Flügel. Dann blieben die vier Träger plötzlich stehen. Inanna sah den ersten Geier.
    Langsam flog er in weiten, trägen Kreisen, flatterte gemächlich und schien sich durch nichts stören zu lassen. Sein weißes Haupt hob sich deutlich vom schwarzen Gefieder ab. Weiter drehte er sich, schien plötzlich in der Luft stillzustehen und fiel dann wie ein Stein nach unten. Inanna konnte ihn nicht mehr sehen. Ein Soldat drehte sich um und übergab sich. Die anderen starrten mit großen Augen nach vorn.
    Neben der Trage lag der ausgestreckte Körper von Tarna. Ihr Speer war entzwei, und über ihre Kehle zog sich ein roter Schnitt. Ihr Körper war nur teilweise unter den Geiern auszumachen, die auf ihr hockten. Immer wieder stieß ein Vogelkopf nach unten und riß und zerrte. Unter den Schnäbelstößen schienen Tarnas Arme und Beine zu tanzen. Blut, Fleischfetzen und ein Stück Darm, das ihr wie ein Gürtel auf dem Bauch lag.
    »Verschwindet, verdammte Biester!« Seb stürmte auf die Geier zu, hieb mit dem Speer nach ihnen und schlug einigen Vögeln die Schädel ein. Aber die Tiere schienen es mit ihrer Flucht nicht eilig zu haben. Sie erhoben sich ein Stück in die Lüfte, so niedrig, daß ihre Klauen fast den Boden berührten, und ließen sich knapp außerhalb der Reichweite von Seb nieder. Inanna starrte auf Tarnas Gesicht; oder besser auf das, was davon übriggeblieben war. »Bedeckt sie!« brüllte Seb. »Bedeckt ihren Körper mit irgendwas, damit die Vögel sie nicht länger behelligen können.« Die Geier hockten in einem Halbkreis da und beobachteten mit gierigen
    schwarzen Augen das Treiben der Soldaten. Ihre kahlen Schädel erinnerten an die Köpfe von alten Männern, und ihre widerwärtigen roten Kehllappen schwangen hin und her. Einer der Soldaten warf seinen Umhang über Tarna und legte dann Steine darauf. »Hebt die Trage«, befahl Seb grimmig. Inanna sank zurück und ließ sich weiterschaukeln. Nun wimmelte es am Himmel von Geiern, die ihre trägen Kreise zogen.
    Die Sonne brannte unbarmherzig. Inannas Kehle war wie
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