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Vier Äpfel

Vier Äpfel

Titel: Vier Äpfel
Autoren: David Wagner
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    Lange bin ich gar nicht gern in Supermärkte gegangen. Heute aber trete ich durch die leise zur Seite gleitende Schiebetür und sehe gleich den Rücken meiner Lieblingskassiererin an der Kasse links, ich erkenne sie an ihrem langen, blonden, gewellten Haar. Ich bleibe stehen, suche in meiner Hosentasche nach einer Münze für das Einkaufswagenschloß und schaue zu, wie sie das Strichcode-Etikett einer Käse- oder Fleischwarentüte mit unnachahmlicher Handbewegung über das Scannerfeld ihrer Computerkasse schwenkt. Dann durchquere ich den Raum vor den Kassen, löse einen Einkaufswagen von der Kette, ziehe ihn heraus, wende Richtung Drehkreuz und schiebe ihn durch den Vorhang aus den drei signalorangefarbenen Plastikelementen, die mich immer an ihre entfernten Verwandten, die Fliegenvorhänge aus bunten Plastikstreifen, erinnern. Hinter solchen Strandhüttenvorhängen liegt das Meer, hier, im Supermarkt, zeigen sie nur an, wo der Verkaufsraum beginnt. Ich gebe dem Einkaufswagen einen Stoß, er rollt unter der Sperre hindurch, die schmalen Plastikzungen klappen nach hinten und schwingen schon wieder vor, während ich durch das Drehkreuz gehe, in dem ich mich, wie immer, für einen kurzen Augenblick gefangen fühle, 1 bevor ich die Verkaufsflächebetrete und in ein großes, gut ausgeleuchtetes Stillleben gelange, aus Äpfeln, Birnen, Pfirsichen und Bananen, Gurken, Möhren, Paprikaschoten und Tomaten.
    2
    Vor dem Obst reiße ich eine transparente Plastiktüte von einer der senkrecht angebrachten, drehbar gelagerten Tütenrollen und suche unter all den angebotenen Apfelsorten nach einer, die mir weniger künstlich erscheint als die anderen. Natürlich muß ich dabei berücksichtigen, daß die Züchter, die heute womöglich Produktdesigner heißen, sicher längst einen Apfel entwickelt haben, der den Anschein erweckt, gerade erst von einer naturbelassenen Streuobstwiese gepflückt worden zu sein, tatsächlich aber schon Wochen im Bauch eines Schiffes oder in der kontrollierten Atmosphäre eines Lagerhauses bei abgesenktem Sauerstoffgehalt gelegen hat. Die Züchter haben die Abweichung, den kleinen Makel, die Apfelschönheitsflecken wahrscheinlich schon in den perfekten Apfel hineingezüchtet, was mich nun nach Äpfeln greifen läßt, die ihre Perfektion nicht tarnen. Ich wähle italienische aus Südtirol, weil die so viele tausend Kilometer weniger unterwegs gewesen sind als die aus Chile oder Neuseeland, und suche mir vier schöne, aber nicht zu schöne Exemplare aus. Einen nach dem anderen lege ich in die Tüte, die dabei so raschelt, wie die Blätter des Baumes, an dem die Äpfel gewachsen sind, vielleicht geraschelt haben. Als ich den letzten in die Tüte stecke, bin ich mir allerdings gar nicht mehr so sicher, obsie überhaupt an einem Baum gewachsen sind. Vielleicht sind sie ja auch, wie die im Märchen von Schneewittchen, das Erzeugnis einer bösen Stiefmutter und, feil, feil, schöne Ware, dem Supermarkt geliefert worden.
    3
    Mit der Tüte in der Hand gehe ich zur Waage, lege sie auf die Wiegefläche und drücke die Apfeltaste. Auf allen Wahltasten der Obst- und Gemüsewaage befinden sich Abbildungen, die mich immer an Kinderbuchillustrationen und Memory-Kärtchen erinnern. 2 Kurz warte ich, daß sich dasmit dem Strichcode bedruckte Klebeetikett aus dem Schlitz des Thermodruckers schiebt, dann muß ich staunen. Erst halte ich es für einen Fehler, aber nein, die grüne Leuchtanzeige zeigt 1 0 0 0 an, die vier Äpfel wiegen zusammen genau tausend Gramm. Ganz vorsichtig entnehme ich das Etikett, auf dem ich die Zahl noch einmal lese, klebe es auf die Apfeltüte, knote sie zu und lege sie in den noch leeren Einkaufswagen. Vielleicht ist heute ein besonderer Tag.
    4
    Ich nehme auch zwei unbehandelte Zitronen, die ich nicht wiegen muß, weil sie pro Stück verkauft werden, lege sie neben die Äpfel und schwenke mit dem Wagen hinüber zu den Kartoffeln, die hinter den Salaten in durchsichtigen Plastikbehältern liegen. Ich mutmaße, daß ohnehin nur fast perfekte, um die zweihundertfünfzig Gramm wiegendeÄpfel in die Supermarktregale gelangen. Hier liegt die Apfelelite, während andere, weniger ansehnliche Exemplare in Fertigkuchen verbacken oder zu naturtrübem Saft gepreßt werden oder, Apfelschicksale, in heißen Apfeltaschen enden. Die Kartoffeln gibt es lose und in Netzen, es gibt Bio- und Nicht-Biokartoffeln, es gibt welche, an denen noch Erde klebt, und sehr saubere andere, gewaschen, gebürstet und
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