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Vier Äpfel

Vier Äpfel

Titel: Vier Äpfel
Autoren: David Wagner
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gesamten Honig in den Gläsern dieses Regals haben sie in ihren Saugrüsselchen gehabt, aber daran scheint sich niemand zu stören. Im Gegenteil, Bienen gehören, obwohl sie stechen können, neben Marienkäfern und Schmetterlingen zu den sympathischsten Insekten. Sie lieben Blumen, mögen Süßes, und wenn sie sich etwas sagen wollen, das haben sie Honigkäufern voraus, fangen sie an zu tanzen. 8
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    Meine Finger liegen auf der Stange des Einkaufswagens, und mir ist, als wäre der Wagen mit mir verwachsen, ja als wäre er die Prothese, mit deren Hilfe ich durch den Supermarkt gehe, meine Körperverlängerung, in die ich jetzt lege, was später in meinen Magen gelangen wird. Statt zu schieben, werde ich gezogen und habe, obwohl ich längst nicht mehr überblicke, wo ich hin will, keineswegs das Gefühl herumzuirren, vielmehr scheint es, als ob ich von einem Programm gesteuert würde, von dessen Existenz ich nichts weiß, vielleicht bin ich bloß ein Automat, vielleicht ist das Bewußtsein, das ich habe, vielleicht ist dieser Schatten eines Bewußtseins mit seinen Einfällen zu Fischstäbchen und Honig nichts als das erste Zucken einer künstlichen Intelligenz, die noch Steuerungsprobleme hat. Mir fällt ein, daß ich als Kind und noch später die Vorstellung hatte, von der Entscheidung, in welche Richtung ich an der nächsten Straßenecke abbiege, könnte, ja müßte der zukünftige Verlauf meines Lebens abhängen, was mich manchmal so sehr lähmte, daß ich an einer Ecke stehenblieb und mir versuchte auszumalen, was aus mir werden würde, wenn ich nach links ginge, und was wohl alles auf mich zukäme, wenn ich mich nur aufraffen könnte, nach rechts zu gehen. Die Illusion oder, wenn man so will, den Glauben, die Zukunft hänge von einer so kleinen, eigentlich unbemerkt getroffenen Entscheidung ab, habe ich irgendwann verloren, obwohl ich die ganze Geschichte mit L., in der ich, auch wenn ich es nicht wahrhaben möchte, noch immer stecke, auf den Umstand zurückführen könnte, daß ich damals, statt in eine Straßenbahn zu steigen, zurück zu dem Schreibwarenladen gegangen bin, in dem wir uns dann getroffen haben. Daß alles von einer winzigenEntscheidung abhänge, läßt sich im nachhinein meist leicht konstruieren, ich bezweifle allerdings, daß es den weiteren Verlauf meines Lebens stark beeinflussen würde, wenn ich hier gleich rechts zum Bier und nicht erst links zur Fleischwarentheke fahren oder aber noch einmal wenden und zurück zum Honig fliegen würde wie eine Biene, die sich von Farben und Mustern leiten läßt. Wahrscheinlich reagiere ich auf Bewegungen vor mir tanzender Frauen, die dazu da sind, mich, den orientierungslosen Mann und Kunden, erst in die eine, dann in eine andere Ecke zu locken, in der ich mir schließlich den Einkaufswagen mit Dingen fülle, die ich gar nicht brauche.
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    Ich höre ein dumpfes Platschen, schaue auf und sehe, daß ein Becher Schlagsahne auf den Fußboden gefallen und aufgeplatzt ist. Er muß dem Mann mit dem Einkaufskorb vor der Kühltheke aus der Hand gerutscht sein, er sieht betroffen nach unten. Langsam, die Sahne fließt behäbig, wird der weiße Fleck neben seinen schwarzen, glänzenden Schuhen immer größer. Der Mann bückt sich, hebt den tropfenden Behälter auf, schaut sich verstohlen um, stellt ihn zurück ins Kühlregal und nimmt sich einen anderen, unversehrten Becher. Er kontrolliert das Haltbarkeitsdatum auf der Deckelfolie, legt ihn, seine Bewegungen wirken nun übervorsichtig, zu zwei Weinflaschen und einem Radicchio-Salat und entfernt sich; der rote Plastikkorb, dessen breiten Kunststoffhenkel 9 er sich über den Arm geschobenhat, schaukelt im Rhythmus seiner Schritte hin und her. Mit dem rechten Vorderrad meines Einkaufswagens fahre ich nun absichtlich durch den Sahnefleck, ziehe eine dünne Sahnelinie auf den Supermarktboden und muß daran denken, daß ich alle paar Monate, mindestens zweimal im Jahr, über einen Bürgersteig gehe, auf den, das verraten die Abdrücke auf dem Pflaster, ein Eimer Wandfarbe von einem Fahrradgepäckträger gefallen ist. Übrig bleibt dann immer ein großes, von Schuhsohlen und Fahrradreifen gemeinsam gestaltetes Gemälde. Auch die Sahnespritzer auf dem Supermarktboden wollen mir bestimmt etwas sagen, ich weiß nur noch nicht, was.
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    L. und ich, wir haben uns in einem Schreibwarenladen getroffen, so haben wir uns das immer wieder erzählt. Wir haben uns wiedergetroffen, nachdem wir uns neun oder zehn Jahre nicht gesehen
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