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Vier Äpfel

Vier Äpfel

Titel: Vier Äpfel
Autoren: David Wagner
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hatten. In einem anderen Schreibwarenladen hätte ich an diesem Tag vielleicht eine andere flüchtige Bekannte früherer Jahre wiedergesehen, vielleicht hätte ich dann die geheiratet und mich nicht drei Jahre später wieder scheiden lassen, vielleicht hätte eine Frau, die ich an diesem Tag in einem anderen Schreibwarenladen, in einer Konditorei, einem Schuhgeschäft oder im Supermarkt getroffen hätte, mich nicht verlassen, um von einem Tag auf den nächsten mit einem anderen zusammen zu sein, vielleicht wären wir, diese andere Frau, der ich noch nie begegnet bin, und ich heute noch ein Paar. Die Frau, dieeben aus dem Marmeladengang abgebogen ist, steuert mir nun wieder entgegen, sie sieht L. eigentlich doch nicht ähnlich, nein, und ich frage mich, warum ich sie dann mit ihr in Verbindung bringen konnte, ja wieso ich überhaupt an L. denke, ich will das doch gar nicht mehr. Die Frau, die nur Cocktailtomaten und eine Packung Diätmargarine in ihrem Einkaufswagen liegen hat, trägt zu einem kurzen, braunen Rock eine blickdichte, dunkelbraune Strumpfhose und Turnschuhe. Wahrscheinlich haben die Strumpfhosen mich an L. erinnert, L. hat ja immer und überall nach Strumpfhosen Ausschau gehalten, und nur weil ich von ihr so viel über Strumpfhosen weiß, habe ich die Strumpfhose der Frau überhaupt bemerkt; früher, bevor ich L. und ihre Leidenschaft für Strumpfhosen kannte, hätte ich da gar keine Strumpfhose, sondern nur Frauenbeine gesehen, schöne, schmale, nicht zu dünne Beine, nun leider schon wieder verschwunden, da die Frau, der sie gehören, aufs neue abgebogen ist.
    19
    Diese Woche im Angebot, sagt eine Supermarktstimme und zählt die Sonderangebote auf, erwähnt, was für ein Zufall, frischen Blattspinat, eine Schweizer Käsesorte und Nudeln. Ich höre nicht weiter zu, sondern stütze mich auf meinen Einkaufswagen und beuge mich über den Holm, auf dem, nur für den Fall, daß ich vergessen sollte, wo ich mich gerade befinde, der Name dieses Supermarkts zu lesen ist. Die Stimme, die aus versteckten Lautsprechern tönt, mischt sich mit dem vertrauten, schmatzenden Geräusch, das meine Schuhsohlen auf dem glatten Boden verursachen. Ich habe Bodenkontakt, ich stehe mit beiden Füßenauf den Kacheln, nein, ich fliege nicht, ich bin noch da. Als ich mich umdrehe, sehe ich die Frau mit der braunen Strumpfhose nun vor dem Kartoffelpüree, und mir fällt auf, daß kaum eine der Personen, die hier Kunden heißen und, so wie ich, einen Einkaufswagen schieben, einmal aufschaut. Alle wirken sehr konzentriert und bewegen sich doch wie Schlafwandler, manchmal sieht das aus, als steckten sie selbst schon in den Kühlschränken, in die sie die Dinge, die sie kaufen, später stopfen werden. Gehört es zur Konvention des Supermarktverhaltens, so zu tun, als wäre kein anderer da, alle anderen zu übersehen, durch sie hindurchzublicken, gar nicht zu bemerken? Die Strumpfhosenfrau und alle anderen, die gerade hier sind, sind zwar zur selben Zeit im selben Supermarkt, verhalten sich aber so, als hätte jeder von ihnen seine eigene Zeit dabei, die sie wie eine halbtransparente Schutzfolie umhüllt. Ich glaube, diese Folie umhüllt auch mich, auch ich bin eigentlich unnahbar. Ich sehe nur verschwommen und werde selbst, was mir ganz gut gefällt, nur verschwommen gesehen.
    20
    Ich stehe wieder vor einer der Kühltheken und schaue auf die durchsichtig verpackte vegetarische Fertig-Bio-Bolognese und die Steinpilzravioli, heute im Sonderangebot, die einträchtig neben den ebenfalls steinpilzgefüllten Tortelloni liegen. Die Form dieser größeren Tortellini erinnert mich immer, ich kann mir nicht helfen, an abgeschnittene Ohrmuscheln.
    21
    Daß ich hier mit niemandem reden, niemandem guten Tag sagen muß, empfinde ich oft als angenehm. Ich muß hier auch nicht über mich nachdenken, ich kann mich ablenken und in einem großen Bogen um L. herumfahren. Eine Zeitlang habe ich die frischen, folienverschweißten, meist schon nach zwei oder drei Minuten im heißen Wasser gargezogenen Ravioli, die ich lange nur aus der Dose kannte, gern gekauft und gegessen – dann aber, ich weiß nicht, wieso, wieder damit aufgehört. Vielleicht weil L. mir einmal erzählt hat, daß in manch einem Spitzenrestaurant, am anderen Ende der Raviolikompetenzskala also, die nicht mehr gar so frischen, eventuell sogar leicht müffelnden Steinpilze vom Vortag mit Teig umhüllt als frische Steinpilzravioli auf der Speisekarte stehen. Ich weiß nicht, ob das stimmt
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