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Vier Äpfel

Vier Äpfel

Titel: Vier Äpfel
Autoren: David Wagner
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dem Keller holen mußte. Das Einweckglas ließ sich meist erst nach einer sonderbaren Prozedur mit Topf und warmem Wasser öffnen, ein Vorgehen, das mirim nachhinein wie eine Beschwörung anmutet. War diese Beschwörung erfolgreich und hatte sich der Glasdeckel vom oft bereits brüchig und porös gewordenen Einmachgummi gelöst, konnte ich die dunklen Kirschen, die nicht weit vom Atomkraftwerk entfernt gereift waren, herauslöffeln und am Rand meines tiefen, mit Milchreis gefüllten Tellers zu einem Kreis anordnen. Wie eine Kette großer, dunkelroter Murmeln lagen sie dann um den weißen Brei, der in dem Teller eine zerklüftete, einer Eiswüste ähnelnde Landschaft bildete. Ich konnte diese Landschaft, auf meinem Teller hatte ich ja Macht, mit der gewölbten Unterseite meines Löffels erst ausmodellieren und dann zu einer Ebene planieren, auf der Zucker und Zimt zu Straßenbelag und Rollsplitt wurden. So lange, bis meine Großmutter sagte: Spiel nicht mit dem Essen, iß. Möchten Sie vielleicht probieren? höre ich den Mann mit dem Vollbart, in dem kein Milchreis hängt, noch einmal sagen, er hält mir ein dampfendes Schälchen hin. Ich bin noch nie auf die Idee gekommen, Fertigmilchreis zu kaufen, mir ist es auch noch nie eingefallen, ein Plastiktöpfchen Fertigmilchreis in den Mikrowellenherd zu stellen. Meine Großmutter kochte den Milchreis auf ihrer Kochmaschine, die sie mit Holz befeuerte, in ihrer Küche brannte, obwohl sie auch einen Gasherd hatte, fast immer ein Feuer, mich faszinierte das. Nein danke, sage ich, ich möchte nicht probieren – dabei steckt in der Pampe, ich müßte nur zugreifen, bereits ein weißes Plastiklöffelchen, das wenig größer als ein Eisspatel ist. Ein farbiger Eisspatel hätte besser zu der Matschepampe gepaßt, die ich, das geht mir nun auf, nur deshalb nicht auf den ersten Blick als Milchreis erkannt habe, weil sie schon vorab mit Zimt vermischt wurde und daher nicht wirklich weiß ist. Welch ein Fehler, denn Milchreis muß weiß wie ein Milchzahn sein.
    27
    Vor dem Kühlregal sehe ich Barbara, die nach zwei Packungen Magerquark greift, erkannt habe ich sie an ihrer besonderen Art, sich zu bewegen. Sie wohnt um die Ecke, hin und wieder laufen wir uns über den Weg, vor gefühlt hundert Jahren sind wir zusammen zur Schule gegangen. Ich spreche sie nicht an, denn ihr Wagen ist halbvoll und es sieht so aus, als wäre sie schon unterwegs Richtung Kasse, außerdem weiß ich, daß wir einander nicht viel zu sagen haben. Schon als wir uns zum ersten Mal nach der Schule wiederbegegnet sind, auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt, hatten wir uns nicht viel zu sagen, auch damals erkannte ich sie an ihrem Gang, und erst später, als ich über dieses erste Wiedersehen nachdachte, fiel mir ein, daß wir auf einer Klassenreise nach Südfrankreich, kurz vor unserem Abitur, miteinander geschlafen hatten. Die Speisequarkpackungen, es wird wohl Kartoffeln mit Quark, Käsekuchen oder eine Quarknachspeise bei ihr geben, liegen nun in ihrem Wagen, sie entfernt sich von mir, kann mich nicht sehen. Sie bewegt sich, als ob sie zu lange in die Ballettstunde gegangen wäre, die Füße leicht nach außen gestellt, doch sie schlenkert dabei, das paßt nicht zu einer Ballerina, mit ihren langen Armen, als rührte sie in der Luft Kuchenteig   – Bewegungen, die eher unkontrolliert als geziert wirken und mir in ihrem Zusammenspiel eigentlich immer gefallen haben und noch immer gefallen. Ich hätte sie doch ansprechen sollen, aber ich weiß ja, daß sie zwei Kinder hat und wahrscheinlich schon auf dem Weg in den Kindergarten ist, um sie abzuholen. In Südfrankreich waren wir beide betrunken, es war warm, und wir lagen im Sand und haben nicht verhütet, weshalb es zwei Wochen später ein paar bange Tage gab. Der Gedanke, daß wir beide, sie und ich, heute ein siebzehn-oder achtzehnjähriges Kind haben könnten, ungefähr so alt wie wir damals, überfällt mich ganz plötzlich. Dort, neben ihr, oder hier, neben mir, könnte ein Kind stehen, das heute gar kein Kind mehr wäre und sicher gar keine Lust hätte, ein Elternteil in den Supermarkt zu begleiten.
    28
    Damals am Strand sind wir einfach übereinander hergefallen, Barbara über mich, ich über sie, am nächsten Morgen hatte ich Knutschflecken überall. Vielleicht sollte ich es wie die Männer in der Reklame machen und mir ein bestimmtes Deodorant nicht nur unter die Achseln, sondern auch auf die Brust sprühen, um so etwas noch einmal zu erleben. Ich
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