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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein
Autoren: Mary Mackey
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ausgedörrt. Bei jedem Rucken der Trage machte sich der Schmerz unangenehm bemerkbar, und bald erfüllte ein dumpfes Pochen ihren Körper. Ein unsichtbarer Geierschnabel hackt an mir wie an Tarna, dachte sie. Inanna schloß die Augen und sah in Gedanken einen kahlen Schädel, unter dem ein Kehllappen wackelte. »Geh weg!« schrie sie.
    »Was hast du gesagt?« wollte Seb wissen.
    »Nichts.«
    Eine Gruppe Zedernbäume. Ein Hügel. Dann war der Himmel fast schwarz von Geiern. Von irgendwoher das Heulen einiger Hyänen über ein Stück Beute. Die Träger blieben von einem Moment auf den anderen stehen. Einer von ihnen würgte.
    »Warum geht es nicht weiter?« Inannas Zunge war so dick und geschwollen, daß ihr das Sprechen so gut wie unmöglich war. Sie wollte sich aufsetzen, aber keine Kraft war mehr in ihr. Und niemand beantwortete ihre Frage. Alle starrten den Hügel hinunter nach Osten; nur Inanna konnte nichts sehen.
    Sie klammerte sich an den Arm eines Trägers und zog sich daran hoch.
    Sie hatten einen Hügel erreicht, der direkt an die Wiese angrenzte, auf der das Hauptlager errichtet worden war. Inanna erkannte den Ort sofort wieder: der Bach, der Eichenwald, die grauen Klippen. Nur waren da viel mehr Felsen auf dem Boden, als sie sich entsinnen konnte. Schwarze Felsen, wie aus einem Füllhorn über die Wiese gestreut, viele halb verborgen vom hohen Gras und von gelben Blumen. Dann wurde ihr klar, daß das Gefallene waren, auf denen Gruppen von Geiern hockten.
    »Dort unten lebt niemand mehr«, sagte Seb. »Offenbar haben die Nomaden unsere ganze Armee aufgerieben.«
     
    Niedergebrannte Zelte, ganze Magurs, die in geregelter Schlachtordnung zu Boden gesunken waren und immer noch die Schilde wie zum Wall in den Händen hielten. Blutlachen, unzählige Geier und über allem der Geruch des Todes. Auch Nomaden lagen hier, mehr als zwei Schwarzköpfige für jeden gefallenen Soldaten der Stadt. Irgendwann am Mittag fanden sie am Bach die Leiche von Lyra. Ein Pfeil ragte aus ihrem Hals, und um sie herum lagen vier tote Nomaden. Ihr Schild war von einem Axthieb zerschmettert worden. Ihre Miene zeigte eine Gelassenheit, als habe sie sich dabei wohl gefühlt, eine Übermacht zu bekämpfen.
    »Sie muß ein furchtbarer Gegner gewesen sein«, sagte Seb. Er hockte sich neben sie hin, nahm ihren bleichen Kopf in die Hände und schloß ihr die Augen. Dann wischte er den Staub so sanft aus ihrem Gesicht, als wolle er sie nicht aus dem Schlaf wecken. »Ich hätte an ihrer Seite stehen müssen.«
    Hinter Seb wanderten zwei Soldaten zwischen den völlig nieder-gebrannten Zelten und suchten nach Freunden und Verwandten. Sie bewegten sich wie Betrunkene, und bei jedem Schritt von ihnen erhob sich kreischend und wütend eine Schar Geier in die Luft, um direkt hinter ihnen wieder zu landen. Seb bedeckte Lyra mit seinem Umhang und legte Steine darüber.
    Inanna sah auf die toten Nomaden, die Muster ihrer Gewänder und die blutverklebten Schlachtamulette. Ki, Enten, An, Enki. Kaum ein Stamm schien hier ungeschoren davongekommen zu sein. Die Gefangenen hatten damals doch gelogen. Warum hätte Pulal auch mit lediglich ein paar hundert Kriegern in die Ebene ziehen wollen? Nein, er hatte das ganze Volk der Schwarzköpfigen in den Krieg geführt. Und er hatte ihr eine Falle gestellt. Während Inannas Kundschafter die Nomaden in den Bergen gesucht hatten, hatten die schon längst den Rand der Ebene erreicht und sich dort irgendwo verborgen. Am ehesten wohl im Trockenland, wo keine Dörfer standen und niemand sie bemerken konnte.
    Jetzt verstand Inanna alles. Pulal hatte in aller Offenheit sein kleines Lager aufgeschlagen, um die Armee aus der Stadt zu locken. Allerdings hatte er wohl nicht damit gerechnet, daß Inanna in der Nacht einen Überraschungsangriff auf ihn unternehmen könnte. Eigentlich hätten die anderen Stämme ihm im Falle eines Angriffs zu Hilfe kommen sollen. Die Hauptmacht der Schwarzköpfigen war wohl auf Lyra und ihre Soldaten gestoßen und hatte sie niedergemetzelt, im Verhältnis zehn zu eins. Lyra hatte keine Chance gehabt. Und alles ist meine Schuld, dachte Inanna. Ich habe Pulal doch zu sehr unterschätzt. Ich bin nicht darauf gekommen, daß er listiger sein könnte als ich.
    Sie hob den abgegriffenen Saum von Sebs Umhang und warf einen letzten Blick auf Lyra. »Du hattest recht, geliebte Freundin«, flüsterte sie, »wir hätten in der Stadt bleiben sollen.«
     
    Die Rückreise zur Stadt war wie ein Zug durch ein
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