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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein
Autoren: Mary Mackey
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regulieren ließ. Viel Böses würde sich in der neuen Stadt herumtreiben, aber da war auch viel Gutes zu erkennen. Wie im Nebel sah sie, wie dieses zukünftige Leben aussehen würde. Nicht unbedingt perfekt, aber erträglich. Diese Vorstellung erfüllte sie mit innerer Ruhe. Habe ich die Schlacht wirklich verloren, fragte sie sich, oder trage ich schließlich doch noch den Sieg davon? Und dann dachte sie müde daran, daß sie vergessen hatte, was ihr gerade eben noch im Kopf herumgegangen war.
     
    Der Palast war verlassen. Aus den Hallen strömte ein heißer, schaler Geruch. Inanna spürte die zwölf Hände dicken Mauern, die Vielzahl der aufeinander getürmten Räume, den Lehm und den Ton, die sie von der Außenwelt abschirmten. Nein, sie wollte nicht in den Palast. Aus irgendeinem Grund fiel ihr eine Nacht wieder ein, in der sie zusammen mit Lilith außerhalb von Hursags Zelt auf einer Decke gelegen hatte. Die beiden Mädchen hatten die Sternkonstellationen betrachtet. »Das sind die Schafe des Himmels«, hatte Lilith gesagt.
    »Seb.«
    »Was ist, Inanna?«
    »Bring mich bitte zum königlichen Horst hinauf. Ich möchte die Sterne sehen.«
    Oben im Garten ließen die Blumen die Köpfe hängen. Das Wasser tröpfelte nur noch über die Steine in das kleine Becken. Ein leichter Jasminduft hing in der Luft. Am Himmel breiteten sich die ungezählten Sterne in all ihrer strahlenden Majestät aus. Inanna legte sich ins Gras und ließ sich von den Sternen aufsaugen. Es kam ihr so vor, als würde sie zu alten Freunden heimkehren.
    »Bringt Decken und einen Kohleofen.« Sebs Stimme war wieder so weit fort. »Sie zittert im Fieber.« Er kniete neben ihr und nahm ihre Hand. »Inanna«, begann er. Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen, um ihn zum Schweigen zu bringen. Aber er schob ihn fort. »Ich liebe dich, Inanna«, flüsterte er.
    Auch sie fühlte Liebe in sich, aber nicht nur für ihn, sondern für etwas viel Gewaltigeres, für etwas, das mit den Sternen zu tun hatte. Seb war ein Teil davon. Alles war ein Teil davon. Sie wollte ihm das sagen, aber von einem Moment zum anderen trieb Seb davon und wurde kleiner und kleiner, so als säße er in einem Schiff, das über das Meer davonfuhr. Ein unsichtbarer Strudel zog an ihr. Sie trieb über die von Sternen beschienene Oberfläche eines gewaltigen, schwarzen Ozeans. Ihr Körper war schwer und voller Frieden. Über ihr gruppierten sich die Sterne zu funkelnden Ringen. Inanna schloß die Augen, lehnte sich zurück und versank ganz langsam. Und über ihr blieb der Schmerz zurück.
    »Die Königin ist tot«, sagte die Dienerin leise. Die alte Frau wischte sich mit einem Ärmel die Tränen aus den Augen und hustete, um ihr Schluchzen zu unterdrücken. Sie bedachte Seb mit einem kummervollen Blick und zog dann die Wolldecke über Inannas Gesicht.
    Seb hielt die Dienerin zurück und schob sie beiseite. Er riß die Decke fort, nahm Inanna in die Arme und horchte an ihrem Herzen. Irgend etwas bewegte sich unter seinen Händen. Freude und Furcht erfüllten ihn. Freude darüber, daß immer noch Leben in ihr war. Furcht darüber, wie schwach ihr Herz schlug. Seb schob die Haare fort und brachte seinen Mund ganz nah an ihr Ohr.
    »Geliebte Inanna, stirb bitte nicht«, hauchte er sanft. »Kehre zurück zu uns. Erinnere dich der Schönheit dieser Welt. Verlier dich nicht in den Höhlen der Hut. Denk an alle deine Freunde und an die, die dich lieben.«
    Stunde um Stunde saß Seb da und flüsterte Inanna seine Gedanken und Empfindungen ins Ohr, rief sie immer wieder zu sich zurück und wußte doch, daß sie ihn jeden Augenblick verlassen konnte.
     

IX
    Weit fort, westlich von der Stadt in der großen Wüste, lehnte eine Frau an einem Felsen und wartete auf das Ende der Nacht. Das Haar der Frau war einst weiß gewesen, aber nun war es von Dreck und Staub verklebt, daß niemand mehr seine Farbe erkennen konnte. Doch hier war weit und breit ohnehin niemand, der sich darüber hätte Gedanken machen können. Seit vielen Wochen war die Frau auf die untergehende Sonne zumarschiert, bis sie die letzte Vegetation hinter sich gelassen hatte und die Welt nur noch aus Sand und Himmel bestand. Aber die Frau hatte diesen Wechsel nicht gesehen, denn sie war blind. Sie hatte nur gespürt, wie rings um sie herum alles immer weniger wurde. Und nun wähnte sie sich verloren in einem gewaltigen Abgrund; wie ein Stein, der einen endlosen, leeren Brunnenschacht hinabfällt.
    Etwas bewegte sich in der
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