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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein
Autoren: Mary Mackey
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etwas mit Honig gesüßten Wein zu trinken. Kurz darauf war sie eingeschlafen.
    Als sie zum drittenmal erwachte, fand sie sich in einem Pappelwäldchen wieder. Sie suchte nach der Wolltasche, fand sie, öffnete sie und zählte wieder die Locken, die die Kundschafterin im Tal von den gefallenen Stadtsoldaten abgeschnitten hatte. Wenn jede Locke für einen Soldaten stand, hatten sie über zwei Magurs verloren. Nicht weit von ihr entfernt schnitten zwei Männer und eine Frau Äste ab. Die Luft roch bereits nach grünem Saft.
    Einige Malven standen nicht weit von Inanna. Sie streckte, so weit es ging, eine Hand aus und berührte eine der rosafarbenen Blüten. Einst war sie eine Heilerin gewesen. Damals hätte sie sich vielleicht selbst heilen können. Aber heute wußte sie nicht, ob diese Macht je wieder über sie kommen würde. Sie suchte in ihrer Tasche nach dem Wandelstein. Er war nicht mehr da. Panik machte sich in ihr breit.
    »Seb!« Der junge Mann tauchte plötzlich über ihr auf. Die Ränder seines Gesichts verschwammen vor dem Hintergrund des klaren blauen Himmels. »Irgendwo hatte ich einen Stein.«
    »Einen Stein?«
    »Ja, ein Stück vom Himmel. Aber ich kann es nicht mehr finden.«
    Sie wollte ihm sagen, wie wichtig es war, den Wandelstein wiederzufinden; daß die Stadt ohne ihn womöglich dem Untergang geweiht sei. Aber der Schmerz vernebelte ihr Bewußtsein und sie vergaß den Wandelstein. Woran hatte sie eben noch gedacht? An ein schwarzes Gebilde, das vom Himmel gekommen war? Irgendwann hatte sie dieses Gebilde auch einmal in Händen gehalten. Aber jetzt?
    »Inanna, leg dich ganz ruhig hin. Du hast Fieber.« Seine Hand auf ihrer Stirn war so erfrischend kühl. Die Malven schienen anzuschwellen, bis sie so groß wie ein Baum waren. Schwach kam ihr zu Bewußtsein, daß Malvenblüten gut für die Lungen waren. Hatte sie nicht Hursag einen Malventee gegen seinen Husten zubereitet? Bei dem Gedanken an Hursag fing sie an zu weinen. Kurzes, hartes Schluchzen wie bei einem kranken Kind. Sie wurde furchtbar wütend, weil sie sich so schwach fühlte und die Tränen sich nicht aufhalten ließen.
    »Was hast du denn?« Seb schien wieder ganz weit weg zu sein. »Ist der Schmerz schlimmer geworden?«
    »Nein.«
    »Was fehlt dir dann?«
    »Ich weiß es nicht. Ich habe es vergessen.« Sie wollte ihm noch etwas erzählen; von etwas Wichtigem, das ihr verlorengegangen war; von etwas, das noch wichtiger als sie selbst oder Seb war. Die Waage des Schicksals hatte sich zur falschen Seite geneigt. Überall spürte sie schon die Folgen dieses Ungleichgewichts. Wie ein teuflischer weißer Nebel stieg das Unheil überall empor. Aber zumindest hatte sie Pulal getötet. Zumindest hatte sie dem Bösen eine gewichtige Niederlage bereitet. Etwas Gutes war also übriggeblieben. Dieser Gedanke beruhigte sie wieder. Dieses Gute würde der Same für etwas Besseres sein. Sie sah vor ihrem geistigen Auge, wie dieses Bessere wuchs und wie eine riesige blaue Blume erblühte, die schließlich den Nebel der Verachtung und des Bösen verdrängte. »Seb.« Sie wollte ihm sagen, daß nicht alles umsonst gewesen war. Aber statt dessen bekam sie wieder einen Hustenanfall, bei dem ihr ganzer Körper erbebte. Sie griff nach der Malve, riß sie aus dem Boden und hielt sie Seb entgegen, so, als würde das alles erklären. Seb nahm die Blume aus ihrer Hand. Sanft drückte er Inanna auf ihr Lager zurück.
    »Nun beeilt euch schon mit der Trage«, rief er den Soldaten zu. »Der Zustand der Königin verschlimmert sich.«
     
    Am Vormittag war die Trage fertig: zwei Pappelstangen, die mit dünnen Ästen und Stoffstreifen zusammengebunden waren. Inanna ließ sich wortlos von Seb darauflegen. Zweige und Stoff gaben bedenklich nach, als vier Soldaten die Trage anhoben und dann einen Hang hinuntermarschierten. Einmal hatte sie sich zum Schlaf in die Krone eines Olivenbaums gelegt, und damals hatte der Wind sie auch so geschaukelt wie jetzt. Ihre Gedanken wanderten in die Vergangenheit, und als sie ins Jetzt zurückkehrten, lief Seb immer noch an ihrer Seite. Er hatte wirklich Enkimdus Züge, aber daran hatte sie schon sehr lange nicht mehr gedacht. Sie erkannte, daß sie Seb als Seb und nicht als Ersatz für Enkimdu liebte, obwohl sie das nie für möglich gehalten hätte. Jetzt wollte sie Seb so gern sagen, wie sie für ihn empfand, aber warum war er nur so fern von ihr?
    Sie sah nur den Himmel, dann Blätter, noch mehr Blätter und schließlich wieder Himmel.
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