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Ich fürchte mich nicht: Roman (German Edition)

Ich fürchte mich nicht: Roman (German Edition)

Titel: Ich fürchte mich nicht: Roman (German Edition)
Autoren: Tahereh H. Mafi
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    Ich bin seit 264 Tagen eingesperrt.
    Habe nur Gesellschaft von einem kleinen Notizheft, einem halbkaputten Schreibstift und den Zahlen in meinem Kopf. 1 Fenster. 4 Wände. 15 Quadratmeter. Ein Alphabet mit 26 Buchstaben, die ich seit 264 Tagen nicht mehr ausgesprochen habe.
    6336 Stunden, seit ich zum letzten Mal jemanden berührt habe.
    »Du bekommst einen Zellengenossen Mitbewohner«, haben sie gesagt.
    » Wir hoffen, du verrottest hier Für gute Führung«, haben sie gesagt.
    » Der ist genauso verrückt wie du Keine Isolationshaft mehr«, haben sie gesagt.
    Sie sind die Schergen des Reestablishment, jener Gruppierung, die unserer sterbenden Gesellschaft helfen sollte. Leute, die mich von meinen Eltern weggeschleppt und in ein Irrenhaus gesperrt haben, für etwas, das ich nicht ändern konnte. Keiner schert sich darum, dass ich nicht wusste, wozu ich fähig war. Dass ich nicht wusste, was ich tat.
    Ich habe keine Ahnung, wo ich bin.
    Ich weiß nur, dass ich 6 Stunden und 37 Minuten unterwegs war, in einem weißen Lieferwagen. Dass ich mit Handschellen an den Sitz gefesselt war. Dass meine Eltern sich nicht verabschiedet haben . Dass ich nicht geweint habe, als man mich wegbrachte.
    Und ich weiß, dass hier jeden Tag der Himmel herabstürzt.
    Die Sonne fällt ins Meer und sprenkelt die Welt vor meinem Fenster braun, rot, gelb, orange. Millionen Blätter von Hunderten von Ästen taumeln durch die Luft, als könnten sie fliegen. Doch der Wind packt ihre dürren Flügel nur, um sie nach unten zu pressen, wo sie vergessen und von den Soldaten draußen zertrampelt werden.
    Es gibt nicht mehr so viele Bäume wie früher, sagen die Wissenschaftler. Unsere Welt war früher grün, sagen sie. Unsere Wolken waren weiß. Das Licht unserer Sonne war immer passend. Aber ich erinnere mich kaum noch an diese Welt. Ich weiß nicht mehr viel von früher. Nur mein jetziges Leben kenne ich. Ein Echo der Vergangenheit.
    Ich presse die Handfläche ans Fenster und spüre die vertraute Umarmung der Kälte. Wir sind beide alleine, sind beide nur Abwesenheit von anderem.
    Ich greife nach dem fast nutzlosen Stift und starre darauf. Überlege es mir anders. Lasse das mühevolle Schreiben sein. Vielleicht ist es gar nicht schlecht, jemanden bei mir zu haben. Mit jemandem zu sprechen. Ich übe, forme mit den Lippen die einst vertrauten Worte, die meinem Mund jetzt so fremd sind. Ich übe von früh bis spät.
    Es wundert mich, dass ich noch sprechen kann.
    Ich rolle das kleine Notizheft zusammen und stecke es in die Lücke in der Wand. Setze mich auf die notdürftig bedeckten Bettfedern, auf denen ich schlafen muss. Warte. Wiege mich hin und her und warte.
    Ich warte zu lange und schlafe ein.
    Meine Augen sehen 2 Augen 2 Lippen 2 Ohren 2 Augenbrauen.
    Ich unterdrücke einen Schrei, den Drang, wegzurennen, das Grauen, das mich packt.
    »Ein J-J-J-J–«
    »Und du bist ein Mädchen.« Er zieht eine Augenbraue hoch. Richtet sich auf. Er grinst, aber er lächelt nicht, und ich würde am liebsten schreien, mein Blick zuckt verstört, verzweifelt, zu der Tür, die ich schon so oft zu öffnen versucht habe. Sie haben mir einen Jungen in die Zelle gesteckt. Einen Jungen.
    Großer Gott.
    Sie wollen mich umbringen.
    Das machen sie mit Absicht.
    Um mich zu foltern, zu quälen, mir für immer den Schlaf zu rauben. Er hat die Ärmel bis zu den Ellbogen hochgerollt, seine Arme sind komplett tatöwiert. In einer Augenbraue fehlt ein Ring, den müssen sie konfisziert haben. Dunkelblaue Augen dunkelbraune Haare kantiges Kinn muskulöser schlanker Körper. Umwerfend. Gefährlich. Bedrohlich. Entsetzlich.
    Er lacht, und ich falle vom Bett und krabble in die Ecke.
    Er beäugt die Liege, die sie heute früh reingeschoben haben, das schmale Kissen, die dünne Matratze, die zerschlissene Decke, die kaum für seinen Oberkörper reicht. Schaut auf mein Bett. Und auf seines.
    Rückt beide mit einer Hand zusammen. Befördert die Metallgestelle mit dem Fuß auf seine Seite. Legt sich über beide Matratzen, schüttelt mein Kissen auf und schiebt es sich in den Nacken. Ich fange an zu zittern.
    Beiße mir auf die Lippe und versuche mich in der dunklen Ecke zu vergraben.
    Er hat mein Bett meine Decke mein Kissen gestohlen.
    Mir bleibt nur der Boden.
    Für immer.
    Ich kann nicht kämpfen, weil ich verängstigt bin, versteinert, verstört.
    »Und du bist – was? Verrückt? Bist du deshalb hier?«
    Ich bin nicht verrückt .
    Er richtet sich auf und schaut mich an. Lacht.
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