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Kopf Unter Wasser

Kopf Unter Wasser

Titel: Kopf Unter Wasser
Autoren: André Kubiczek
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Weihnachtsfest feiern, wie er es in seiner Kindheit erlebt hatte, mit beiden Großeltern, mit Mutter und Vater, Onkel und Tanten. Nie würden sie einen Familienurlaub machen, zu dritt, Birte, Johanna und er. Es war zum Heulen. Wenn er sich überlegte, dass …
    Im roten Licht, das durch die Baumwipfel fiel, erkannte Henry plötzlich, worauf er schon seit einer Weile gestarrt hatte. Es war ein Ameisenhügel, keine fünf Meter entfernt. Henry hielt den Atem an, und es schien ihm, als hörte er die Ameisen über den Waldboden laufen, über vergilbte Kiefernnadeln, trockene Kienäpfel und verdorrte Moospolster, sie liefen nicht, sie rannten, sie flohen aus dem Wald. Und es schien ihm, als flüsterten sie dabei, als warnten sie einander: eine hochtönende Kakophonie Zehntausender panischer Stimmchen.
    ENDE

Toter Mann
    Henry steckte in einem Schlafsack, als er zu sich kam. Er lag auf dem Rücken und hörte den Wind in den Baumwipfeln rascheln, er hörte das Knacken und Knistern eines Feuers, roch den Duft brennenden harzigen Holzes. Er blieb eine Weile so liegen, ehe er die Augen aufschlug. Es war dunkel. Er sah den Schein des Feuers über die Stämme tanzen. Die wenigen Laubbäume zwischen den Kiefern hatten ihre Blätter verloren. Es schien Herbst zu sein.
    Henry richtete sich auf. An einem Lagerfeuer saßen gut zwanzig Schritte entfernt drei Frauen und sahen zu ihm herüber. Hinter ihnen war ein kleines Zelt aufgeschlagen. Henry öffnete den Reißverschluss des Schlafsacks und stand auf. Er sah, dass sich auch die Frauen langsam erhoben, zwei von ihnen verschwanden im Wald, die Dritte kam langsam auf ihn zu. Die glatten blonden Haare fielen ihr über die Schulter, sie trug ein knielanges Kleid, das aus mehreren Schichten transparenten Stoffs bestand, an den nackten Füßen hatte sie grobe Wanderschuhe.
    Als sie vor ihm stand, sagte sie: »Komm mit.« Sie streckte ihm die Hand hin, und als Henry zögerte, sie zu ergreifen, sagte sie: »Mach schon.«
    Ihre Finger waren kalt.
    Sie zog ihn vom Feuer weg an den Waldrand: ein ausgefahrener Weg, ein braches Feld, am Horizont die Silhouette einer Pappelreihe.
    Die Frau ließ seine Hand los, sie gingen schweigend den Feldweg entlang, Henry einen halben Schritt hinter ihr. Er wusste, dass hinter der Pappelreihe die Bundesstraße lag, die am Dorf seiner Kindheit vorbei in die Kreisstadt führte.
    Sie liefen weiter, Henry wollte nachsehen, wie spät es war, aber er trug keine Uhr.
    An der nächsten Waldschneise, dem Beginn eines neuen Jagens, blieb die Frau stehen.
    Henry brauchte eine Weile, um zu erkennen, was er sah: verkohlte Stämme, schwarze Baumskelette, verbrannten Boden. Auch die Frau betrachtete die verwüstete Landschaft: »Kannst du dich erinnern?«
    Â»Die Ameisen«, sagte Henry, »ich konnte die Ameisen hören.«
    Â»Sie sind vor dem Feuer geflohen«, sagte die Frau.
    Â»Da war kein Feuer.«
    Â»Als das Feuer kam, hast du geschlafen. Du hast nicht gemerkt, wie die Glut deiner Zigarette auf den Waldboden fiel.«
    Â»Und dann?«
    Statt zu antworten, ging die Frau weiter.
    Henry lief ihr hinterher: »Dann wurde ich gerettet?«
    Â»Nein, wir kamen zu spät.«
    Schon vom Flughafenzaun aus erkannte Henry die Trümmer der Gaststätte. Sie war bis auf die Grundmauern abgetragen, alles andere dagegen schien unversehrt, der Turm mit der Funkantenne, der Tankcontainer, die Abstellhalle. Auf dem Parkplatz wartete ein Geländewagen mit verspiegelten Scheiben und verchromten Frontschutzbügeln. Er hatte ein Berliner Kennzeichen.
    Henry hörte es zweimal piepen, dann sprang die Zentralverriegelung auf, und gleichzeitig gingen die Scheinwerfer an.
    Â»Steig ein«, sagte die Frau, »wir fahren in die Stadt.« Sie nahm hinter dem Lenkrad Platz.
    Â»Was wird aus den beiden anderen?« Henry deutete mit dem Kopf Richtung Wald.
    Â»Die hüten das Feuer«, sagte die Frau.
    Der Wagen setzte sich in Bewegung, und nach ein paar Minuten auf dem Feldweg bogen sie auf die Bundesstraße ein.
    Â»Hier bin ich groß geworden«, sagte Henry, als sie an seinem Heimatdorf vorbeifuhren.
    Â»Ich weiß«, sagte die Frau, »wir nehmen die Autobahn.«
    Sie rasten mit hundertachtzig Kilometern pro Stunde Richtung Hauptstadt.
    Â»Wer bist du?«, fragte Henry.
    Â»Denk dir einen Namen aus, oder rede mich nicht an.«
    Â»So meinte ich das
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