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Wie August Petermann den Nordpol erfand

Wie August Petermann den Nordpol erfand

Titel: Wie August Petermann den Nordpol erfand
Autoren: Philipp Felsch
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AUS MANGEL AN BEWEISEN
    Lange Zeit hat der Nordpol zu den Requisiten der heroischen Moderne gehört: ein Ort, an dem sich bärtige Männer die Zehen abfroren. Doch gegenwärtig erlebt er eine schillernde Renaissance. Im Sommer 2007 deponierte ein russisches U-Boot die russische Flagge an seinem Grund. Vor der nahe gelegenen Hans-Insel halten sich dänische und kanadische Kriegsschiffe in Schach. Und die Völkerrechtler streiten darüber, ob die Arktis als Land oder Meer oder keines von beiden anzusehen ist. Von der Entscheidung dieser Frage wird es womöglich abhängen, wer das Eismeer in Zukunft ausbeuten darf. Denn alle Parteien warten darauf, dass die Arktis auftaut, dass die Nord-westpassage schiffbar und das Erdöl unter dem Pol zugänglich wird. Dann könnte ein neuer kalter Krieg beginnen. Solange die Eisschollen aber noch nicht geschmolzen und die Bohrinseln noch nicht errichtet sind, wirken die geopolitischen Schachzüge wie eine frostige Operette. Worum, bitte, geht es denn? Um ein treibendes Territorium, so leb- und so nutzlos wie die dunkle Seite des Mondes.
    Das hatte schon Robert Peary feststellen müssen, als er am 6. April 1909 seine Flagge ins Eis des Nordpols stieß. Es soll ein sonniger, windstiller Tag gewesen sein. »The Pole at last« Ref. 1 , notierte er in sein Tagebuch - »endlich der Pol.« Und direkt darunter: »I cannot bring myself to realize it.« Denn anstatt des verdienten Triumphgefühls gingen ihm merkwürdige
Gedanken durch den Kopf. Was bedeutete es, an einem Ort zu sein, an dem in allen Richtungen Süden lag? Und wie groß war der Pol überhaupt? So groß wie ein Vierteldollar, so groß wie ein Hut oder eine kleine Stadt? Natürlich wusste der Ingenieur, dass der Pol ein mathematischer Punkt war, aber gerade diese Abstraktion verstärkte den Eindruck von Unwirklichkeit. Am ehesten, schrieb der zielstrebige Peary, erzeuge der Pol ein Gefühl dafür, »dass die meisten Dinge relativ sind«. Er war an den Nullpunkt der Geografie gelangt. Beim Abmarsch warf er auf sein Lebensziel nicht mehr als einen flüchtigen Blick über die Schulter zurück.
    Nach der Rückkehr musste Peary feststellen, dass ein gewisser Frederick Cook, sein ehemaliger Schiffsarzt, behauptete, schon vor ihm am Pol gewesen zu sein. Es folgte eine schmutzige Presseschlacht, die Cook als gebrochenen Mann und Peary als zweifelhaften Sieger zurückließ. Denn am Nordpol gab es nichts zu sehen. Die Beweisfotos der erbitterten Rivalen zeigten flatternde Fahnen und winkende Männer inmitten einer »unbeschreiblichen Leere«. So beschrieb es Cook. Peary behauptete, Cook habe seine Aufnahmen kurz vor der Küste Grönlands gemacht. Cook behauptete, er habe eine Metallröhre am Nordpol vergraben. Doch die war natürlich längst abgedriftet. Verständnislos rätselte der Schiffsarzt in seinem 1911 veröffentlichten Expeditionsbericht über die Natur geografischer Beweise: Seit Kolumbus habe die Menschheit den Erzählungen ihrer Entdecker geglaubt. Warum sollte das in seinem Fall anders sein? Warum hielt ihn die Welt für einen Betrüger? Doch alle Beteuerungen nützten nichts. Cooks Ruf war ruiniert. Am Ende landete er wegen einer windigen Ölspekulation im Gefängnis. Ref. 2

    Bis auf den heutigen Tag ist der Streit zwischen Peary und Cook nicht entschieden, nach wie vor werden Bücher veröffentlicht, Beweise begutachtet und Loyalitäten erklärt. Vielleicht zeigt das, dass der Wettlauf zum Nordpol prinzipiell unentscheidbar war. Am Ende, so der niemals zu entkräftende Verdacht, erreichte keiner der beiden Gegner sein Ziel. Dem heroischen Hirngespinst, seit Jahrzehnten von der Presse beschworen, fehlte schlicht und einfach so etwas wie eine handgreifliche geografische Referenz. Der Linguist Roman Jakobson Ref. 3 hat in den 1930er Jahren notiert, das späte 19. Jahrhundert sei die Zeit einer galoppierenden Inflation der Zeichen gewesen. Als sich irgendwann herausstellte, dass die Worte nicht länger von der Wirklichkeit gedeckt wurden, erlebten sie einen Schwindel erregenden Wertverfall. Doch alle Versuche, das Vertrauen in die papierne Sprache zurück zu gewinnen, schlugen fehl. Frederick Cook musste das am eigenen Leib erfahren: Seinem 600 Seiten starken Expeditionsbericht wollte niemand mehr Glauben schenken. Und nicht einmal der Pol selbst blieb verschont. Beim Nordpol, könnte man mit den Kulturwissenschaftlern sagen, handelt es sich um den einzigen real existierenden frei flottierenden Signifikanten: um ein Zeichen,
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