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Kontrollverlust - Kontrollverlust

Kontrollverlust - Kontrollverlust

Titel: Kontrollverlust - Kontrollverlust
Autoren: Christian Gude
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provinziellen und kleinkarierten Spießer konnte er keine Rücksicht nehmen. Er war mit seinem Thriller-Einstieg mehr als zufrieden.
    Gerade als er Vince Stark zu Recherchezwecken in ein fiktives Bordell gleich neben dem Alnatura-Biomarkt schicken wollte, klingelte es an der Wohnungstür. Verdammt, wer konnte das sein? Er schaute auf die Uhr – 17:30. Seine Frau? Unmöglich, sie kam frühestens in anderthalb Stunden von ihrem Pilateskurs zurück. Vielleicht sein Schwager Klaus mit einer neuen Geschäftsidee, die unter keinen Umständen bis zum nächsten Morgen warten konnte. Oder aber … – Rünz stand auf, schlich leise auf den Socken zur Tür und spähte durch den Spion. Tatsächlich. Der kleine Oskar vom ersten Stock. Also das, was sein Chef Sven Hoven ein ›worst case scenario‹ nennen würde. Wann schritt endlich das Jugendamt ein und steckte den Rotzlöffel in ein geschlossenes Heim? Oskar klingelte noch einmal.
    »Ist keiner zu Hause«, rief Rünz, und schlug sich sofort zur Selbstbestrafung für diese dämlichste aller möglichen Reaktionen mehrmals mit der Faust gegen die Stirn. Jetzt gab es kein Zurück mehr, um einen Rest an Glaubwürdigkeit zu bewahren, musste er die Tür öffnen und mit der Keimschleuder direkt kommunizieren.
    »Lass mich raten!«, sagte Rünz durch den Türspalt, bevor der Kleine zu Wort kommen konnte. » Deine Mutter hat mit meiner Frau vereinbart, dass meine Frau zwei Stunden auf dich aufpasst, damit deine Mutter entspannt eine Runde um die Ludwigshöhe drehen kann, mit ihren bescheuerten Nordic Walking-Stöcken.«
    Oskar umklammerte eine riesige ausgestopfte Stoffschildkröte und starrte Rünz schweigend an. Seine Füße steckten in viel zu großen Filzpantoffeln, er sah aus, als stünde er in Schlauchbooten.
    »Geh wieder runter zu Mutti und sag ihr, dass die Frau Rünz heute Abend nicht da ist und deswegen nicht auf dich aufpassen kann. Tschüss, Oskar! Tschüss, Schildkrötilein!« Rünz zwang sich ein Lächeln ab und winkte der Kröte zu, dann schloss er die Tür, lehnte sich mit dem Rücken ans Türblatt und atmete erleichtert auf.

    »Mama ist schon weggefahren«, hörte er Oskar nach wenigen Sekunden im Treppenhaus rufen.
    ›DANN KLINGEL DOCH BEI DER HEXE GEGENÜBER‹, hätte Rünz gerne geschrien. Er spähte wieder durch den Spion, die Hexe von gegenüber hatte ihre Tür einen Spalt geöffnet, um die Szene optimal beobachten zu können. Na prima, die würde sicher gleich die RTL Explosiv-Redaktion anrufen – ›Südhessischer Polizeihauptkommissar lässt Achtjährigen in Treppenhaus erfrieren‹ – so was ließen die von den Privaten sich nicht entgehen. Es half also nichts – Tür auf, freundlich die Nachbarin grüßen, Keimschleuder rein, Tür zu. Oskar stand verloren im Flur herum. Rünz überlegte fieberhaft, wo er den Knaben kontaminationsfrei zwischenlagern konnte, bis seine Frau kam und sich um ihn kümmerte. Diese Tröpfchen- und Schmierinfektionen waren ja nicht zu unterschätzen. Schlagartig hatte er eine Idee. Er ging in die Küche, schnitt einige frische Mülltüten auf und breitete sie im Wohnzimmer auf der rechten Hälfte der Couch aus. Er bat Oskar, auf den Folien Platz zu nehmen, und setzte sich selbst mit maximalem Sicherheitsabstand in die linke Ecke des Sofas. Eigentlich hätte er gerne an seinem Manuskript weitergearbeitet, aber so hatte er Oskar besser unter Kontrolle. Eine Weile saßen beide schweigend da und starrten in den Raum, dann nahm Rünz eines seiner Waffenmagazine vom Couchtisch und war nach wenigen Minuten völlig versunken in einen Testbericht über das neue Zeiss Victory Diarange Zielfernrohr mit Rapid-Z-Weitschussabsehen. Das einzige Geräusch, das die Stille ab und an störte, war das Knistern der Plastikfolie, wenn sich der Kleine bewegte.

    »Darf ich Fernsehen gucken?«, fragte Oskar schließlich.
    »Von mir aus …«, grunzte Rünz. »Kika oder DVD?«
    »Kika ist Kinderkram«, sagte Oskar. »Lieber Spielfilm.«
    Rünz legte die aktuelle ›Caliber‹ zur Seite, stand auf, schlurfte zum DVD-Regal und ging die Titel durch. Da er ausschließlich Filme konsumierte, in denen zwischenmenschliche Konflikte mit Gewalt gelöst wurden, war seine Auswahl an jugendfreien und pädagogisch wertvollen Streifen übersichtlich. Vielleicht konnte er dem Kleinen einen seiner Trash-Horrorstreifen von Roger Corman und Jack Arnold aus den Fünfzigern und Sechzigern vorführen, ›Angriff der Riesenspinne‹ oder ›Der Schrecken vom Amazonas‹.
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