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Wenn der Wind dich ruft

Wenn der Wind dich ruft

Titel: Wenn der Wind dich ruft
Autoren: Teresa Medeiros
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Prolog
    London, 1826
    Es war eine schöne Nacht zum Sterben.
    Während die Dämmerung allmählich der Nacht wich, begannen dicke Schneeflocken aus dem sternenlosen Himmel zu Boden zu schweben. Bald schon wäre alles, was grob, hässlich und schmutzig in den überquellenden Straßen von Whitechapel war, unter einer federleichten Schneedecke verborgen. Die Flocken tanzten und wirbelten um die Straßenlaternen, dämpften ihr Licht.
    Jenny O'Flaherty schlug ihren Schal hoch über ihr feines schwarzes Haar, zog den Kopf ein und beschleunigte ihre Schritte. Die blendende Schönheit des Schnees hinderte den Wind nicht daran, mit eisigen Fängen durch das fadenscheinige Tuch zu dringen. Nie hatte sie es eiliger gehabt, die trostlose Wohnung zu erreichen, die sie sich mit drei anderen Mädchen teilte. Bald schon würde sie mit einer Schüssel warmem Haferbrei vor dem Ofen kauern, um sich Hände und Magen zu wärmen.
    Als ein hämisch grinsender Lakai sie aus dem Weg stieß, damit seine Herrin ungehindert vorübergehen konnte, warf Jenny einen sehnsüchtigen Blick auf die Ziegenlederhandschuhe der elegant gekleideten Dame. Wenn man wie sie fünfzehn Stunden am Tag als Näherin arbeitete, waren die Finger oft wund und schmerzten. In Nächten wie dieser platzte die Haut manchmal auf und begann zu bluten, sodass Jenny sich oft in den Schlaf weinte.
    Sie reckte ihr Kinn, weigerte sich, Mitleid mit sich selbst zu haben. Ihre liebe Mutter, Gott möge ihrer Seele gnädig sein, hatte sie immer darin bestärkt, sich das Gute in ihrem Leben vor Augen zu halten. Kein vornehmer Herr würde jemals ein ungebildetes irisches Mädchen anstellen, um seine Kinder zu erziehen oder seiner Gattin Gesellschaft zu leisten. Aber wenigstens musste sie nicht ihr Geld auf der Straße verdienen, wie so viele andere Mädchen, die vor drei Jahren mit demselben Boot aus Dublin angekommen waren wie sie. Der Gedanke, ihren Körper jedem Mann zu verkaufen, der etwas in der Hose und zwei Schilling übrig hatte, ließ sie bis in die Tiefen ihrer Seele frieren.
    Als sie sich dem dunklen Eingang einer Straße näherte, wurde sie langsamer. Wenn sie diese gewundene Kopfsteinpflastergasse nahm, verkürzte sich ihr Heimweg um drei Häuserblöcke. Normalerweise würde sie dennoch das Risiko nicht eingehen, aber heute Nacht, in dieser bitteren Kälte, würde sie bestimmt niemand belästigen. Sie hatte keine Börse, die die Begehrlichkeit eines Diebes wecken könnte. Und mit ihren gegen den schneidenden Wind hochgezogenen Schultern und den unter dem Schal verborgenen rosigen Wangen würden die meisten Männer sie für eine zahnlose alte Vettel halten.
    Mit einem sehnsüchtigen Gedanken an das knisternde Feuer und die dampfende Schüssel Haferbrei, die sie am Ende der Gasse erwarteten, warf sie einen letzten Blick über ihre Schulter auf die bevölkerte Straße, dann huschte sie in die dunkle Passage.
    Sie eilte durch die wabernden Schatten, und mit jedem Schritt wuchs ihr Unbehagen. Der Wind fuhr durch den Tunnel, den die baufälligen Häuser zu beiden Seiten der Gasse bildeten, heulte wie ein betrogener Liebhaber. Sie warf einen verstohlenen Blick über ihre Schulter, während sie sich wünschte, sie wäre auf der belebten Straße geblieben, statt die Abkürzung zu nehmen. Obwohl der Schnee, der in die Gasse geweht worden war, bis auf ihre Fußstapfen unberührt war, hätte sie schwören können, dass sie gedämpfte Schritte hinter sich vernommen hatte.
    Entschlossen, das Ende der Straße zu erreichen, ehe sie Grund hatte, ihre Entscheidung zu bereuen, begann sie zu laufen. Sie war fast am anderen Ende angekommen, als sie mit der Stiefelspitze an einem lockeren Pflasterstein hängen blieb und stürzte, auf Händen und Knien landete.
    Ein Schatten fiel über sie. Langsam hob sie den Kopf, voller Angst vor dem, was sie erblicken würde. Aber ihr erschrockenes Aufkeuchen ging rasch in ein erleichtertes Aufatmen über. Kein Taschendieb wäre so elegant gekleidet.
    Als der Unbekannte sich vorbeugte, sie behutsam am Ellbogen fasste und ihr aufhalf, schaute Jenny in Augen, die im dämmerigen Licht beinahe zu glühen schienen.
    »Armes Lämmchen«, säuselte ihr Retter. »Das war aber ein übler Sturz. Hast du einen Namen, Kind?«
    »Jenny«, flüsterte sie, wie gebannt von diesen außergewöhnlichen Augen. »Ich heiße Jenny.«
    Der Fremde lächelte, erkannte wohl den verräterischen Singsang. »Das ist ein hübscher Name für ein hübsches Kind.« Das Lächeln verblasste.
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