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Kontrollverlust - Kontrollverlust

Kontrollverlust - Kontrollverlust

Titel: Kontrollverlust - Kontrollverlust
Autoren: Christian Gude
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Bisonherde, die quer über den Platz getrieben den Boden zum Beben brachte, riss die Zuschauer auf den Holztribünen im Film und Oskar in Rünz’ Wohnzimmer zum ersten Mal von den Sitzen. Und als die legendäre Scharfschützin Annie Oakley, gespielt von Geraldine Chaplin, mit ihrem Compagnon loslegte, schien Oskar die Spannung kaum auszuhalten, hielt sich die Hände vors Gesicht und blinzelte gebannt mit offenem Mund durch die Fingerchen auf die Mattscheibe. Oakley durchschoss rücklings mit Hilfe eines Spiegels Spielkarten, die ihr Partner hinter ihr hochhielt, und Oskar war wie paralysiert, hatte die Augen weit aufgerissen, sogar der Lidreflex schien vor Anspannung zu versagen, sodass ihm bald Tränen die Wangen herunterliefen.
    Kinder waren doch leicht zu beeindrucken. Rünz überlegte, wann er zum letzten Mal solche Begeisterung gespürt hatte, so vorbehaltlose und selbstvergessene Hingabe, ohne jede innere Distanz, ohne den Schutz von kühler Rationalisierung und ironischer Brechung. Hatte er sie jemals gespürt? Er konnte sich nicht daran erinnern.
    Rünz beobachtete den Kleinen und versuchte, sich alle Stellen auf der Couch und den Kissen einzuprägen, die Oskar mit seinen speichelnassen Fingern jenseits der Mülltüten berührte – er würde sie später mit dem Sagrotanspray bearbeiten müssen.
    Zum großen Filmfinale trat die Truppe vor dem US-Präsidenten auf, mit einer Inszenierung der legendären Schlacht am Little Bighorn. Der Showdown war großes Feuerwerk, mit Unmengen von Platzpatronen, Pulverdampf, Soldaten, Indianern, Pferden und brennenden Wagen. Und inmitten des Kampfgetümmels General Custer, gespielt von Cody, im Zweikampf mit Sitting Bull, beide dekorativ ausgestellt auf einem Kunstfelsen im Zentrum der Arena.
    Die Kamera fuhr an die beiden heran zum Close-up, der Kampflärm um sie herum ebbte ab, als hätten sich die verfeindeten Parteien wortlos darauf geeinigt, die Auseinandersetzung von ihren Anführern austragen zu lassen. Sitting Bull hatte die Klinge seines Messers an Custers Kehle, ein Aufschrei ging durch die Zuschauerränge auf dem Bildschirm, Oskar hielt den Atem an, die Niederlage des 7. US-Kavallerieregiments schien unabwendbar. In der Sekunde größter Not für General Custer und seine Berittenen zog die Kamera zurück in die Totale, die Tücher, die eine Querseite der Arena abschlossen, öffneten sich. Was war zu erwarten? Mehr Indianer, um – der historischen Wahrheit folgend – Custers Truppe endgültig den Garaus zu machen? Oder Geschichtsklitterung im Sinne William F. Codys, also Verstärkung für die Soldaten, um den Gerechten nachträglich zu ihrem verdienten Sieg gegen die Wilden zu verhelfen?
    Der kleine Oskar, fast überfordert von der Dramatik des Films, rutschte auf der Couch zu Rünz hinüber, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden, und umklammerte Rünz’ Hand. Der Kommissar war geschockt. Seit drei Jahren wohnte Oskar hier im Haus, und Rünz hatte aus Angst vor Ansteckung bis dato jeden Körperkontakt erfolgreich vermieden – und jetzt das! Aber er wagte nicht, seine Hand wegzuziehen, um Oskars Begeisterung für die wilde Schießerei auf dem Bildschirm nicht zu gefährden. Was Rünz hier betrieb, war schließlich aktive und engagierte Nachwuchsförderung für den Polizeischützenverein Südhessen.

     

3

    »Zeig mal her, was musst du denn da für Hausaufgaben machen?«
    »Ach, das hat dich doch noch nie interessiert.«
    »Jetzt aber. Los, zeig schon her, was bringen die euch bei auf dieser Wunderschule?«
    »Englisch. Kannst du Englisch?«
    »Na ja, nicht so richtig.«
    »Ich bring’s dir bei, wenn du willst!«
    »Lass mal, für so was bin ich zu alt. Komm, wir gehen gleich noch eine Runde auf den Schießstand, wir üben ein bisschen mit der Luftpistole«, schlug Brecker vor. Irgendwie musste er seinen Sohn wieder auf vertrautes Terrain locken, eine neue gemeinsame Basis finden.
    »Keine Zeit«, sagte Kevin. »Ich muss das hier noch fertig machen. Außerdem kommt Mama gleich, um mich abzuholen.«
    Brecker war sprachlos. Vor einem Jahr wäre seinem Sohn noch jede Ablenkung von den Hausaufgaben recht gewesen. Und jetzt hockte er am Küchentisch über seinen Heften, als gäbe es nichts Aufregenderes auf der Welt. Brecker schaute auf die Uhr. Kevin hatte recht, sie hatten nur noch eine knappe halbe Stunde. Aber seit wann achteten Achtjährige so geflissentlich auf die Uhrzeit? Konnte der Kleine es nicht erwarten, zu Breckers Ex-Frau und ihrem neuen Lover
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