Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kontrollverlust - Kontrollverlust

Kontrollverlust - Kontrollverlust

Titel: Kontrollverlust - Kontrollverlust
Autoren: Christian Gude
Vom Netzwerk:
Miniaturfigur folgte der Bewegung, in der Trommel schlug ein einfacher Hammermechanismus gegen einen Feuerstein, sodass bei jeder Rotation kleine Funken aus der Mündung schlugen.
    »Hat ja schon ganz schön Patina angesetzt, dein Little Joe. Vom Flohmarkt?«
    Brecker brauchte zwei quälend lange Minuten, bevor er antwortete, als wären die Signalwege zum Gehirn mit einem radikalen Tempolimit eingebremst worden.
    »Erbstück«, sagte er schließlich, ganz langsam, als kostete ihn das Sprechen große Anstrengung. »Von meinem Urgroßvater.«
    »Na, dann kannst du’s ja bald an deinen Kleinen weitergeben, wenn du hier rauskommst«, versuchte Rünz, ihn aufzumuntern. »Der wird sich freuen!«
    Rünz glaubte selbst nicht so ganz an das, was er da verkündete. Welchen Acht- oder Neunjährigen interessierte schon eine kleine alte Messingstatue, die einen Cowboy an einer Gatling Gun darstellte? Heute war der Nachwuchs scharf auf Bionicles, Transformers und Egoshooter, so ein antiquierter Plunder lockte niemanden mehr hinter dem Ofen hervor.
    Brecker starrte Rünz an, legte den Tonklumpen auf die Tischplatte und hörte auf, an der Metallkurbel zu drehen. »Ich komme hier nicht mehr raus«, sagte er.

     

     

1

    Richard Jordan Gatling war ein Mann der Tat – Tüftler, Erfinder, Ingenieur und Entwickler in Personalunion. Was ihn aus der Masse der begabten Techniker und Visionäre des neunzehnten Jahrhunderts hervorhob, war sein Talent, Innovationen nicht nur zu entwickeln, sondern auch zu verkaufen. Als versierter PR-Stratege und begnadeter Marketingexperte in eigener Sache war er zeitgleich Motor und Profiteur der Industrialisierung des nordamerikanischen Kontinents. Und ein Mann mit einem beeindruckenden Portfolio: Er vertrieb neuartige Propeller für Dampfboote, produzierte Säh- und Verarbeitungsmaschinen für die Landwirtschaft, beschäftigte sich mit der Optimierung von Fahrrädern, pneumatischen Antrieben und Toilettensystemen. Er war ein akribischer Beobachter seiner Umwelt, und wo er Möglichkeiten der Verbesserung und Perfektionierung sah, wurde sein ruheloser Geist aktiv. Und so wunderte es nicht, dass sich sein Augenmerk mit dem Ausbruch des Bürgerkrieges im Jahr 1861 auf die Schlachtfelder von den Appalachen bis zur Mündung des Mississippi richtete.
    Die Niederlage gegen die Konföderierten bei der Schlacht von Manassas in Virginia hatte die Hoffnung der Unionsregierung um Abraham Lincoln auf eine zügige Bezwingung der Sezessionsbewegung in den Südstaaten schnell zerschlagen. Eine lange, zermürbende und verlustreiche Auseinandersetzung begann, und Gatling verfolgte bestürzt, wie ein viel zu hoher Blutzoll auf beiden Seiten die Nation an den Rand ihrer Existenzfähigkeit zu bringen drohte. Bei der Entwicklung einer Lösung für dieses Problem blieb der Erfinder der ihm eigenen Logik und Maxime treu – eine bessere Welt durch bessere Maschinen. Und die Maschinen, mit denen man Krieg machte, waren Waffen.
    Konföderierte und Unionisten beschossen sich auf den Schlachtfeldern in Kentucky und Tennessee, in North Carolina, Missouri und Arkansas mit einer bunten Mischung meist antiquierter, störanfälliger und unpräziser Waffen, Vorder- und Einzelladern, Gewehren und Kurzwaffen aller Größen und Kaliber, Herkünfte und Qualitäten. Nicht selten waren sie vom Gegner erbeutet oder aus der Heimat mitgebracht. In einem Gefecht waren oft Schusswaffen aus zwei Jahrzehnten amerikanischer und europäischer Büchsenmacherkunst im Einsatz.
    All diese Waffen hatten eine Gemeinsamkeit – in aller Regel erforderte die Nachladung Minuten. Akustisch muss eine nordamerikanische Bürgerkriegsschlacht im Vergleich mit dem gnadenlosen Stakkato des Sperrfeuers in den Stellungskriegen des Ersten und Zweiten Weltkriegs eine seltsam entschleunigte Geräuschkulisse geboten haben. Und so waren es nicht Schussverletzungen, die die meisten Opfer des Sezessionskriegs forderten, sondern Unterernährung und Krankheit, Folgen auch des wirtschaftlichen Niedergangs durch den landesweiten Mangel an Arbeitskräften. Aus ökonomischer Perspektive betrachtet, wurde auf dem nordamerikanischen Kontinent ein extrem ineffizienter, vorindustrieller Krieg geführt.
    Was lag also näher, als den Krieg und seine schrecklichen Folgen mit leistungsfähigeren Schusswaffen schneller zu Ende zu bringen? Denn wenn ein einzelner Mann – so Gatlings Gedankengang – mit der Feuerkraft einer Hundertschaft von Vorderladerschützen ausgestattet war, wo war
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher