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Kontrollverlust - Kontrollverlust

Kontrollverlust - Kontrollverlust

Titel: Kontrollverlust - Kontrollverlust
Autoren: Christian Gude
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Prolog

    Ein kleiner, schmuckloser Raum mit großen Sicherheitsfenstern am Ende eines kahlen Ganges. Trist und deprimierend trotz der weißen Wände, mit Schrammen an Türrahmen und Wänden. Ein Blechspind, ein Bett, ein Nachttisch ― alle fest mit Stahlwinkeln im Betonboden verankert. An der Wand die grauen Umrisse eines Kleiderschrankes, vier herausgebrochene Dübellöcher, die handtellergroßen Krater im Mauerwerk mit grauer Spachtelmasse provisorisch verschlossen. Er hat versucht, die Tür mit dem Holzmöbel einzuwerfen. So hatte es jedenfalls der Pfleger erzählt. ›Sie sind sicher, dass Sie alleine mit ihm reden wollen?‹ Mehrmals kam die Frage auf dem Weg durch die Korridore des Elisabethenstiftes in der Landgraf-Georg-Straße. Als hätte Rünz beschlossen, das Löwengehege im Frankfurter Zoo zu betreten. Er hatte keine Angst davor, von Brecker angegriffen zu werden, ihm machte etwas anderes Sorgen. Wenn er anfängt zu heulen oder hysterisch wird, dann haue ich sofort ab, dachte Rünz. Greinende Frauen waren ja schon schwer erträglich, aber wenn Männer ihre Schleusen öffneten, geriet sein Weltbild ins Wanken.
    Brecker starrte die grauen Putzplacken auf der blanken Wand an, völlig in sich versunken. Er walkte mit seiner linken Pratze wie in Trance eine mandarinengroße, plastische graue Masse und spielte mit der Rechten an einer kleinen Messingfigur herum, die vor ihm auf dem Tisch stand. Er wirkte noch mächtiger als früher, die Speckschicht auf seinem Stiernacken warf Falten wie die Haut eines Flusspferdes.
    Seit mehreren Minuten saßen sie sich schweigend gegenüber. Verdammt, warum hatten die keine festen Besuchszeiten hier? Nichts wäre Rünz jetzt willkommener gewesen als ein Pfleger, der ihn bäte, zu gehen. Hatte er die moralische Pflicht, sich um Brecker zu kümmern? Gut, er war nicht nur sein Schwager, sondern auch sein bester Freund. Aber zwischenmenschliche Beziehungen waren für Rünz wie ein Schönwetter-Picknick im Grünen, das man am besten zügig abbrach, wenn dunkle Wolken heraufzogen. Vielleicht half es, wenn er das Schweigen mit ein paar unverfänglichen Themen unterbrach.
    »Und, wie ist das Essen hier? Die können doch sicher nicht gleichziehen mit unserer Präsidiumskantine, stimmt’s?«
    Brecker starrte stoisch an Rünz vorbei und antwortete nicht. Er wirkte nicht mehr depressiv, wie in den Wochen zuvor im Präsidium – er wirkte sediert. Rünz fiel plötzlich ein, dass er drei Jahre zuvor die gleiche Szene schon einmal mit Brecker erlebt hatte, allerdings mit spiegelverkehrter Rollenverteilung. Er hatte nach der Schießerei auf dem Knell-Gelände mit einer Gehirnerschütterung in der Intensivstation der Darmstädter Kliniken gelegen, und Brecker hatte versucht, ihn mit Zoten über die Schwestern aufzumuntern.
    »Geben sie dir Medikamente?«, fragte Rünz.
    »Nur abends, zum Einschlafen«, nuschelte Brecker abwesend.
    Rünz atmete auf. Wenigstens konnte sein Schwager noch sprechen. Eine Stunde schweigend hier abzusitzen – das war für Rünz eine Horrorvorstellung. »Was ist das für ein Zeug, auf dem du dauernd rumdrückst? Knetmasse?«, fragte er.
    »Ton«, antwortete Brecker phlegmatisch. »Wir töpfern hier.«
    Rünz war einen Moment lang völlig verdutzt und brach dann lauthals in Gelächter aus, aber es klang gekünstelt und unecht, als versuchte er um jeden Preis, die entspannte und ausgelassene Atmosphäre ihrer gemeinsamen Mittagessen in der Präsidiumskantine wiederherzustellen.
    »Ist das dein Ernst? Klaus Brecker, der Schrecken der Darmstädter Halbwelt, der Aufräumer vom Dienst, die Planierraupe der hessischen Schutzpolizei – töpfert ? Mensch, erzähl das bloß nicht den Kollegen, die geben dir sonst ihre Poesiealben, damit du Gedichte reinschreibst.«
    Rünz wusste es freilich besser. Die Kollegen hätten Brecker gelyncht, wenn sie ihn in die Finger bekommen hätten.
    Brecker verzog keine Miene. Rünz schaute sich die Metallfigur in der rechten Hand seines Schwagers genauer an. Sie stellte einen Cowboy dar. Mit breitkrempigem Hut, die Hand an der Kurbel eines automatischen Maschinengewehrs, das auf einer kleinen fahrbaren Lafette stand. Vielleicht eine Gatling, dachte Rünz. Die konvexen Außenflächen der Messingoberfläche waren von den Berührungen wie blank poliert, in den Vertiefungen schimmerte Grünspan. Wieso hatten sie ihm dieses Metallspielzeug nicht weggenommen, wenn er so unberechenbar war?
    Brecker drehte unentwegt an der Kurbel, der Arm der
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