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Kinder

Kinder

Titel: Kinder
Autoren: Jürgen Seibold
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mit sich gerungen und sie schließlich doch wieder zur Seite gelegt.
    Er wählte die Privatnummer, die in krakeliger
Schrift auf der Rückseite stand. Das Tuten an seinem Ohr wirkte unnatürlich
laut in der nächtlichen Stille. Kurz spürte Muhr ein schlechtes Gewissen.
    » Sie können mich anrufen, zu jeder Zeit « , hatte Kommissar Mertes gesagt, als er die Ermittlungen in der
Schule ergebnislos abschloss. Das hatte Mertes nun davon. Und Muhr war sich
nicht sicher, ob er am nächsten Tag noch einmal den Mut für diesen Anruf haben
würde.
    Am anderen Ende der Leitung klingelte es zweimal,
dreimal. In Muhr stieg die Angst auf, der Kommissar könnte gerade jetzt nicht
erreichbar sein. Er begann in Gedanken eine kurze Erklärung zu formulieren, die
er notfalls auf dem Anrufbeantworter hinterlassen konnte. Es klingelte ein
viertes und ein fünftes Mal.
    Kein Anrufbeantworter sprang an.
    Nach dem sechsten Klingeln ließ Muhrs Entschlossenheit
ein wenig nach, nach dem siebten griff er mit der freien rechten Hand noch
einmal nach seinem Weinglas.
    Nach dem achten Klingeln wurde abgehoben. Aber
das hörte Muhr schon nicht mehr. Hinter ihn war eine dunkle Gestalt getreten
und hatte ihm mit einer schnellen Bewegung einen dünnen Draht um den Hals
geschlungen. Überrascht spürte Muhr den heftigen Druck, die Atemnot, den
schneidenden Schmerz an seinem Hals. Dann nichts mehr.
    » Hallo? « , rief
Kommissar Mertes am anderen Ende der Leitung in den Hörer. » Hallo? Wer ist denn da? «
    Ein scharrendes Geräusch war zu hören, ein
gedämpftes Ächzen, ein Klirren wie von einem zu Boden gefallenen Glas. Dann
wurde aufgelegt.

Kapitel eins
    »Hi, Mami! Hi, Paps!«
    Sarah sprang die Treppe ins Erdgeschoss herunter, immer zwei Stufen
auf einmal, und ließ sich auf den letzten freien Stuhl am Esstisch fallen.
    »Mami … Paps …« Rainer Pietsch sah zu seiner Frau Annette
hinüber und verdrehte die Augen. Sie lächelte zurück und drückte seine Hand.
    »Na, schlechtes Gewissen, Paps?«
    »Ein schlechtes Gewissen? Wieso das denn?«
    »Deswegen«, machte Sarah und nickte grinsend zu dem Blumenstrauß in
der Mitte des Tisches hin.
    »Tja, meine liebe Sarah, ich muss dir leider sagen: Nein, ich habe
nichts ausgefressen. Blumen schenke ich deiner Mutter einfach, weil ich sie
mag.«
    »Na, wie nett!«
    Sarah strich sich Nugatcreme aufs Brot, und Annette sah ihren Mann
mit gespielter Strenge an.
    »Mag …?«
    »Nein, nein«, beruhigte er sie sofort und deklamierte pathetisch:
»Ich liebe dich, wie immer schon und jeden Tag ein bisschen mehr!«
    »Bäh«, maulte Michael. »Hört bloß auf mit diesem Schmus. Das ist ja
abartig, in eurem Alter!«
    »Du bist ja bloß neidisch«, foppte ihn sein jüngerer Bruder Lukas,
»weil du noch keine Freundin hast!«
    »Freundin? Spinnst du? Was soll ich denn mit … Mädchen?«
    Er schüttelte sich und schaufelte sich einen Löffel Müsli in den
Mund. Einige Minuten lang waren nur leises Schmatzen und das Radio im
Hintergrund zu hören. Dann begann der Werbeblock.
    »Oh, wir müssen«, sagte Rainer Pietsch und stand auf. »Daran könnte
ich mich übrigens gewöhnen: morgens zusammen frühstücken, mit Blumen und perfekt
arrangierter Wurstplatte.« Er gab seiner Frau einen Kuss.
    »Du musst dir nur häufiger mal freinehmen – an der Wurstplatte soll
es dann nicht scheitern.«
    »Das wäre ja auch noch schöner«, lachte er, »wenn man schon mit
einem Cateringprofi verheiratet ist!«
    »Hallo?«, rief Annette Pietsch und knuffte ihren Mann lachend in die
Seite.
    Kurz darauf war er mit den drei Kindern im Auto unterwegs.
    »Lässt du uns hier raus, Paps?«
    »Hier schon?«
    »Du weißt doch …«
    Rainer Pietsch fuhr rechts ran. »Ich weiß: Eltern sind peinlich.«
    »Genau«, lachte Sarah und klopfte ihrem Vater auf die Schulter.
»Jetzt hast du’s verstanden.«
    Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange, huschte aus dem Wagen, und
schon strebten sie und ihre beiden Brüder der Schule zu. Rainer Pietsch blieb sitzen
und beobachtete durch die Windschutzscheibe des Familienvans, wie seine Kinder
die Straße entlangschlenderten, erste Klassenkameraden begrüßten, die Jungs
sich mit ihren Freunden abklatschten und Sarah überschwänglich ihre beste
Freundin umarmte und abküsste.
    Geburtstag, Silvester, der Beginn eines neuen Schuljahrs: Immer zu
solchen Anlässen fiel Rainer Pietsch auf, dass seine Kinder schon wieder größer
und älter geworden waren. Sarah war mit ihren vierzehn Jahren bereits
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