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Kinder des Holocaust

Kinder des Holocaust

Titel: Kinder des Holocaust
Autoren: Philip K. Dick
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würde wetten«, sagte einer der beiden einen Moment später, »daß du auch über den Boden gerollt bist wie ein Fußball.«
    »Ja«, bestätigte Hoppy und lachte. Jetzt lachten sie alle, er, Fergesson und die beiden Techniker; sie stellten sich vor, wie es aussah, als er, Hoppy Harrington, sieben Jahre alt, ohne Arme und Beine, nur Kopf und Rumpf, über den Boden rollte, aus Furcht und Schmerz heulte – aber es war lustig; er wußte es genau. Er hatte es komisch erzählt, so daß es lustig sein mußte; er sorgte dafür, daß es im Rückblick komisch wirkte.
    »Heute bist du mit deinem Karren ja wirklich viel besser dran«, meinte Fergesson.
    »O ja«, antwortete Hoppy. »Und ich arbeite an einem Entwurf für einen ganz neuen Wagen, meinem eigenen Entwurf, vollelektronisch – ich habe einen Artikel über direkte Hirnsteuerung gelesen, in der Schweiz und in Deutschland wendet man so was schon an. Man verbindet Apparaturen direkt mit den motorischen Zentren des Gehirns, so daß jede zeitliche Verzögerung entfällt. Dadurch kann man viel schneller handeln als ... als mit herkömmlichen physiologischen Verfahrens weisen.« Fast hätte er gesagt: als ein Mensch. »In ein paar Jahren werde ich damit fertig sein«, fügte er hinzu, »und mein Entwurf wird sogar die schweizer Modelle übertreffen. Dann kann ich diesen Schrott von der Regierung auf den Müll schmeißen.«
    »Ich muß sagen, ich bewundere deinen Lebensmut«, sagte Fergesson in förmlich-feierlichem Tonfall.
    Hoppy lachte und mußte stottern. »Da-danke, Mr. Fergesson.«
    Einer der Fernsehtechniker gab ihm einen Multiplex-FMTuner. »Die Einstellschärfe stimmt nicht mehr. Sieh mal zu, ob du die Justierung wieder hinkriegst.«
    »Na klar«, sagte Hoppy und nahm das Gerät mit seinen Metallgreifern. »Klappt bestimmt. Justierungen habe ich zu Hause schon 'ne Menge gemacht, darin habe ich Erfahrung.« Diese Tätigkeit war für ihn von allen am leichtesten: er brauchte sich wahrhaftig kaum auf die Vorrichtung zu konzentrieren. Es schien, als wären derartige Aufgaben für ihn und seine Fähigkeiten geradezu maßgeschneidert.

    Als sie einen Blick auf den Kalender an der Küchenwand warf, sah Bonny Keller, daß heute der Tag war, an dem ihr Freund Bruno Bluthgeld ihren Psychiater Dr. Stockstill in seiner Praxis in Berkeley aufzusuchen beabsichtigte. In der Tat mußte er schon bei Stockstill gewesen sein, die erste Stunde Therapie gehabt und sich verabschiedet haben. Zweifellos befand er sich bereits auf der Rückfahrt nach Livermore und zu seinem Büro im Strahlen-Institut, den Laboratorien, in denen sie selbst vor Jahren gearbeitet hatte, bis zu ihrer Schwangerschaft: dort hatte sie 1975 Dr. Bluthgeld kennengelernt. Jetzt war sie einunddreißig Jahre alt und wohnte in West Marine; ihr Mann George war nun Stellvertretender Rektor der örtlichen Volksschule, und sie war sehr glücklich.
    Nun ja, nicht sehr glücklich. Eher einigermaßen oder hinlänglich glücklich. Sie mußte sich selbst noch analysieren lassen – allerdings nur noch einmal statt dreimal wöchentlich –, und in vielerlei Hinsicht verstand sie sich heute, sich und ihre unbewußten Neigungen und nebengeordneten systematischen Verzerrungen der realen Situation. Sechs Jahre der Psychoanalyse hatten ihr sehr weitergeholfen, aber geheilt war sie nicht. Eine richtige Heilung konnte es gar nicht geben; die »Krankheit« war das Leben selbst, das ein stetiges Wachsen verlangte (oder vielmehr auf lebenstüchtige Weise wachsende Anpassung), andernfalls wäre geistiger Stillstand die Folge.
    Keinen solchen Stillstand zuzulassen, das war ihr fester Entschluß. Zur Zeit las sie Der Niedergang des Westens im deutschen Original; fünfzig Seiten hatte sie schon gelesen, und es war die Mühe wert. Wen sonst kannte sie, der das Werk gelesen hatte, und wäre es bloß in der englischen Übersetzung gewesen?
    Ihr Interesse an der deutschen Kultur, ihren literarischen und philosophischen Errungenschaften, war vor Jahren im Laufe ihrer Bekanntschaft mit Dr. Bluthgeld entstanden. Zwar hatte sie am College drei Jahre lang Deutsch durchgenommen, darin jedoch nie einen wichtigen Bestandteil ihres Lebens als erwachsene Frau gesehen; wie so vieles, was sie einmal mühsam gelernt hatte, war es zunächst ins Unbewußte abgerutscht, nachdem sie von der Schule abgegangen war und das Berufsleben begonnen hatte. Bluthgelds nachgerade wie magnetische Gegenwart hatte viele ihrer geistigen Interessen von neuem belebt und erweitert,
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