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Kennedys Hirn

Kennedys Hirn

Titel: Kennedys Hirn
Autoren: Henning Mankell
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Ungeduld wuchs. Weil es keine andere Maschine gab, auf die sie umbuchen konnte, ging sie nach draußen, setzte sich vor dem Flughafengebäude auf eine Bank und rauchte eine Zigarette. Jetzt bereute sie es, daß sie nicht mit Vassilis gesprochen hatte, sie hätte ebensogut den Zornausbruch eines Mannes über sich ergehen lassen können, der in seiner Eitelkeit gekränkt war und ein Nein nicht akzeptieren konnte als das, was es war.
    Doch sie rief nicht an. Mit fast zweistündiger Verspätung hob die Maschine ab, und es war schon nach fünf Uhr, als sie wieder in Stockholm landete. Sie nahm ein Taxi direkt zu Henriks Wohnung auf Söder. Sie gerieten in den Stau nach einem Verkehrsunfall, es waren viele unsichtbare Kräfte am Werk, die sie zurückhalten, sie verschonen wollten. Doch natürlich wußte sie davon nichts, sie fühlte nur, wie ihre Ungeduld wuchs, und dachte, daß Schweden in vielerlei Hinsicht Griechenland zu gleichen begann, verkeilte Autoschlangen und ständige Verspätungen.
    Henrik wohnte in der Tavastgata, einer ruhigen Straße ein wenig abseits der Hauptverkehrswege auf Söder. Sie probierte aus, ob der Türkode der gleiche war wie beim letzten Mal, io66, die Schlacht bei Hastings. Die Tür ging auf. Henrik wohnte ganz oben mit Aussicht auf Blechdächer und Kirchtürme. Er hatte auch erzählt, zu ihrem großen Entsetzen, daß er das Wasser des Strömmen erkennen konnte, wenn er auf dem schmalen Gitter vor einem seiner Fenster balancierte.
    Sie drückte zweimal auf die Klingel. Dann schloß sie auf. Sie bemerkte den dumpfen Geruch einer ungelüfteten Wohnung.
    Im selben Augenblick bekam sie Angst. Etwas stimmte nicht. Sie hielt den Atem an und lauschte. Vom Flur konnte sie in die Küche sehen. Es ist niemand hier, dachte sie. Sie rief, daß sie es sei. Aber keiner antwortete. Ihre Angst verging.
    Sie hängte ihren Mantel auf und trat die Schuhe von den Füßen. Auf dem Boden unter dem Briefeinwurfschlitz lag keine Post und keine Reklame. Henrik war also nicht verreist. Sie ging in die Küche. Kein schmutziges Geschirr im Spülbecken. Das Wohnzimmer war ungewöhnlich gut aufgeräumt, der Schreibtisch leer. Sie schob die Tür zum Schlafzimmer auf.
    Henrik lag unter der Decke. Sein Kopf ruhte schwer auf dem Kissen. Er lag auf dem Rücken, eine Hand hing hinab auf den Fußboden, die andere lag offen auf seiner Brust.
    Sie wußte sofort, daß er tot war. In einem aberwitzigen Versuch, sich von dieser Einsicht zu befreien, schrie sie los. Aber er bewegte sich nicht, er lag in seinem Bett und war nicht mehr da.
    Es war Freitag, der 17. September. Louise Cantor stürzte in einen Abgrund, der in ihr selbst war und zugleich außerhalb ihres Körpers.
    Dann lief sie aus der Wohnung, immer noch schreiend. Die sie gehört hatten, sagten später, es habe geklungen wie der Notschrei eines Tiers.
    A us dem Chaos löste sich ein einzelner greifbarer Gedanke. Aron. Wo war er? Gab es ihn überhaupt? Warum stand er nicht neben ihr? Henrik war ihr gemeinsames Geschöpf, und dem konnte er sich nicht entziehen. Aber Aron kam natürlich nicht, er war fort, wie er immer fort gewesen war, er war wie ein dünner Dunstschleier, den sie nicht greifen, an den sie sich nicht anlehnen konnte.
    Sie hatte hinterher keine direkte Erinnerung an die nächsten Stunden, wußte nur, was andere ihr erzählt hatten. Ein Nachbar hatte die Tür aufgemacht und sie entdeckt, sie war auf der Treppe gestolpert und liegengeblieben. Danach war ein Gewimmel von Menschen um sie gewesen, Polizisten und die Männer vom Krankenwagen. Man hatte sie in die Wohnung gebracht, obwohl sie sich dagegen gesträubt hatte. Sie wollte nicht dahin zurück, sie hatte nicht gesehen, was sie gesehen hatte, Henrik war nur ausgegangen, er würde bald nach Hause kommen. Eine Polizistin mit kindlichem Gesicht hatte ihr den Arm gestreichelt, sie war wie eine freundliche alte Tante gewesen, die ein kleines Mädchen tröstete, das hingefallen war und sich das Knie aufgeschrammt hatte.
    Aber sie hatte sich nicht das Knie aufgeschrammt, sie war zusammengebrochen, weil ihr Sohn tot war. Die Polizistin wiederholte ihren Namen, sie hieß Emma. Emma war ein altmodischer Name, der wieder in Mode gekommen war, dachte sie verwirrt. Alles kehrte wieder, auch ihr eigener Name, der früher hauptsächlich von den Reichen und Vornehmen benutzt worden war, und allmählich durch die Zwischenböden der Klassengesellschaft nach unten gesickert und für alle erlaubt war. Ihr Vater Artur hatte den
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