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Kennedys Hirn

Kennedys Hirn

Titel: Kennedys Hirn
Autoren: Henning Mankell
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Namen bestimmt, und in der Schule war sie deswegen gehänselt worden. Es gab damals eine Königin Louise in Schweden, sie war uralt und glich einem verdorrten Baum. Louise hatte ihren Namen während der ganzen Zeit ihres Heranwachsens gehaßt, bis zu dem Punkt, da die Geschichte mit Emil vorbei war, sie hatte sich aus der Umarmung des Bären befreit und hatte aufbrechen können. Da wurde der Name Louise plötzlich zu einem eigentümlichen Aktivposten.
    Die Gedanken wirbelten durch ihren Kopf, und die Polizistin Emma saß neben ihr und tätschelte ihren Arm, als schlüge sie den Takt zu der Katastrophe oder als wäre sie selbst die verstreichende Zeit.
    Sie hatte ein Erlebnis gehabt, es war eins der wenigen Dinge, an die sie sich selbst erinnerte, ohne daß jemand sie darauf ansprach oder ihr die Einzelheiten nannte. Die Zeit war ein Schiff, das sich entfernte. Sie war zurückgeblieben am Kai, und die Uhren des Lebens tickten immer langsamer. Sie war zurückgelassen worden, abseits der großen Ereignisse. Nicht Henrik war tot, sie selbst war es.
    Ein paarmal versuchte sie zu fliehen, sich von der freundlich streichelnden Polizistin loszureißen. Man erzählte ihr nachher, ihre Schreie seien herzzerreißend gewesen, schließlich hatte jemand sie gezwungen, eine Tablette zu schlucken, die sie betäubte und schläfrig machte. Sie erinnerte sich daran, daß alle Menschen, die sich in der kleinen Wohnung drängten, sich immer langsamer bewegten, wie in einem Film, der mit zu geringer Geschwindigkeit abgespielt wird.
    Während sie so dem Abgrund entgegenstürzte, hatte sie auch wirre Gedanken über Gott. Sie hatte nie wirkliche Gespräche mit ihm geführt, zumindest nicht, seit sie als Teenager eine Phase schwerer religiöser Grübelei durchlitten hatte. Eine Klassenkameradin war eines Wintermorgens kurz vor Lucia auf dem Weg zur Schule im Schneetreiben von einem Schneepflug überfahren und getötet worden. Es war das erste Mal, daß der Tod in ihrer allernächsten Nähe zuschlug. Es war ein Tod, der nach nasser Wolle roch, ein in winterliche Kälte und schweren Schnee eingebetteter Tod. Ihre Lehrerin hatte geweint - schon dies allein war ein furchtbarer Angriff auf das Idyll, die strenge Lehrerin wie ein verlassenes und verängstigtes Kind in Tränen ausbrechen zu sehen. Auf dem Platz des toten Mädchens hatte eine brennende Kerze gestanden. Es war die Bank neben ihrer, jetzt war ihre Klassenkameradin fort, der Tod bedeutete, fort zu sein, nichts anderes. Das Erschreckende, geradezu Entsetzliche war, daß der Tod so willkürlich zuschlug. Sie begann sich zu fragen, wie es so sein konnte, und plötzlich verstand sie, daß der, an den sie diese Frage in Gedanken richtete, vielleicht der war, den man Gott nannte.
    Doch er antwortete nicht, sie versuchte mit allen möglichen Tricks, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sie errichtete in einer Ecke des Holzschuppens einen kleinen Altar, aber keine innere Stimme antwortete auf ihre Fragen. Gott war ein abwesender Erwachsener, der nur dann zu einem Kind sprach, wenn es ihm gefiel. Sie entdeckte schließlich, daß sie im Grunde auch nicht an einen Gott glaubte, höchstens hatte sie sich vielleicht in Gott verliebt, eine heimliche Verliebtheit, wie in einen unerreichbaren Jungen, der ein paar Jahre älter war als sie.
    Danach hatte es in ihrem Leben nie mehr einen Gott gegeben, nicht bis jetzt, aber auch diesmal sprach er nicht zu ihr. Sie war allein. Es gab nur sie und die streichelnde Polizistin und all die Menschen, die mit gedämpften Stimmen redeten, sich langsam bewegten und nach etwas zu suchen schienen, das verlorengegangen war.
    Es trat eine plötzliche Ruhe ein, als wäre ein Tonband durchgeschnitten worden. Die Stimmen um sie her waren verschwunden. Statt dessen hörte sie ein Flüstern im Kopf, das unablässig wiederholte, daß es nicht wahr sei. Henrik schlief nur. Er konnte ganz einfach nicht tot sein. Sie war doch gekommen, um ihn zu besuchen.
    Ein Polizist in Zivil und mit müden Augen bat sie behutsam, mit ihm in die Küche zu kommen. Später wurde ihr klar, daß er es getan hatte, damit sie nicht sah, wie Henrik hinausgetragen wurde. Sie setzten sich an den Küchentisch, sie fühlte mit der Handfläche die Brotkrümel, die dort lagen.
    Henrik konnte ganz einfach nicht tot sein, die Brotkrümel waren doch noch da!
    Der Polizist nannte seinen Namen, zweimal, bevor sie verstand, was er sagte. Göran Vrede.
    Er stellte Fragen, die sie mit eigenen Fragen
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