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Katharsia (German Edition)

Katharsia (German Edition)

Titel: Katharsia (German Edition)
Autoren: Jürgen Magister
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TOD
    Der Bus fuhr durch eine von anhaltender Dürre gezeichnete Landschaft. Sie machte den Eindruck, als wäre sie mit Ziegelstaub überzogen. Auch die Berge in der Ferne, Ausläufer des Atlasgebirges, waren in dieses eigenartige Rot gehüllt. Über allem brannte unbarmherzig die Sonne und warf harte Schatten.
    Eine verdammt ungemütliche Gegend, sinnierte Sando, der seit geraumer Zeit aus dem Fenster starrte und froh war, sicher in dem klimatisierten Bus zu sitzen. Trotz der kühlen Luft, die mit eintönigem Zischen den Düsen über seinem Kopf entströmte, glänzte sein aschblondes, kurz geschnittenes Haar vor Nässe. Die Stirn an die Scheibe gepresst, gab er sich der Illusion hin, im Tiefflug einen fremden, unwirtlichen Planeten zu erkunden. Er bestaunte die hartblättrigen Strauchballen, die sich mit unglaublichem Überlebenswillen in dem ausgetrockneten Boden festkrallten. Sie waren so zahlreich, dass die ziegelrote Landschaft schier übersät war mit grünen Punkten.
    Sando überlegte, warum ihm dieses Farbmuster so vertraut vorkam, obwohl er noch nie hier gewesen war. Als es ihm einfiel, musste er unwillkürlich lächeln.
    „Wie die verwaschene Küchenschürze meiner Oma“, sagte er zu Maria, der jungen Frau, die neben ihm saß und ebenso in die Betrachtung der ungewohnten Landschaft versunken war.
    Sie schreckte auf. „Was meinst du damit?“
    „Meine Oma trug immer eine blassrote Schürze mit grünen Punkten. Das gleiche Muster wie dort draußen.“
    Maria blickte prüfend durch das Busfenster. „Ich kenne die Schürze deiner Oma zwar nicht“, sagte sie schmunzelnd, „aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie so faszinierend ist wie diese Landschaft.“
    „Kommt darauf an“, erwiderte Sando und sah tief in Marias himmelblaue Augen. „Wenn DU sie tragen würdest …“
    „He, was willst du denn damit sagen?“
    Sie lachte und knuffte ihn scherzhaft in die Seite. Sando spürte ein angenehmes Prickeln in der Magengegend, denn seine Reisegefährtin war von atemberaubender Schönheit. Das konnte er einschätzen mit seinen vierzehn Jahren. Seiner Bewunderung für sie tat auch keinen Abbruch, dass sie fast dreißig und seine Klavierlehrerin war, die ihn, seit er denken konnte, zum regelmäßigen Üben angehalten hatte. Jetzt, da sie ihn anlachte, ihn mit beiden Händen bei den Ohren packte und seine Stirn an die ihre drückte, klopfte ihm das Herz bis zum Hals. Gern hätte er sie umarmt. Aber seine Hände hingen herab wie gelähmt, gehorchten nicht seinen geheimen Wünschen.
    Was war nur los mit ihm? Er hatte sie doch schon tausend Mal umarmt – und sie ihn, ihren talentiertesten Schüler, wie sie immer wieder versicherte. Sie mochte ihn, da konnte er sicher sein. Für sie hatte der kleine Schönheitsfehler in seinem Gesicht keine Bedeutung, die Narbe, die von der Nase bis zur Oberlippe reichte und seinen Mund etwas schief zog. Für sie war es kein Problem, dass er mit einem Lippenspalt zur Welt gekommen war, den die Leute „Hasenscharte“ nannten. Warum also war er in diesem Augenblick wie gelähmt? Was zum Teufel hinderte ihn daran, einfach seine Arme um sie zu legen, jetzt, da sie ihn so fröhlich knuddelte?
    Zu spät.
    Maria ließ wieder von ihm ab und griff sich ein Buch. Sando schaute sie verstohlen an. Ihr dichtes blondes Haar wurde heute durch etliche schmale Zöpfe gebändigt. Durch ihre Ohrläppchen hatte Maria silbern glänzende Kettchen gezogen, an deren Enden kleine Metallstäbchen hingen, die bei jeder Bewegung aneinanderstießen und leise klimperten. Sie reichten ihr fast bis zu den Schultern hinab. Sando sah sie das erste Mal. Das Medaillon, das sie an einer Halskette trug, kannte er seit Langem. Es zeigte die Sixtinische Madonna, ein Marienbild von Raffael.
    „Das bin ich“, pflegte Maria zu sagen – und tatsächlich, fand Sando, war eine Ähnlichkeit zwischen den beiden nicht zu leugnen. Einmal hatte ihm Maria das Original dieses Bildes in der Dresdner Galerie Alte Meister gezeigt und er hatte sich dem Zauber der Madonna nicht entziehen können. Ihm war es vorgekommen, als würde sie ihn anschauen, ihn ganz allein. Und als er weiterging, hatte sie ihm sogar nachgeblickt.
    Jetzt zierte die Madonna Marias Ausschnitt. Sando sah, wie sich das Bildnis mit jedem Atemzug hob und senkte. Und da ihr Shirt so kurz war, dass es jedem, der es wollte, einen freien Blick auf ihre schlanken Hüften und den Bauch gewährte, konnte er sehen, wie auch ihr Bauchnabel im gleichen Rhythmus auf und
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