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Kennedys Hirn

Kennedys Hirn

Titel: Kennedys Hirn
Autoren: Henning Mankell
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früher, als sie klein war, wenn sie nachts wach geworden war und zu ihm ins Bett kriechen konnte. Sie überließ alles ihm. Einen kurzen Moment dachte sie, daß alles, was geschehen war, nur Einbildung sei. Dann merkte sie, daß er anfing zu weinen, und da starb Henrik zum zweiten Mal. Jetzt wußte sie, daß er nie wieder aufwachen würde.
    Niemand konnte sie jetzt noch trösten, die Katastrophe war eine Tatsache. Aber Artur zwang sie mit sich, in seiner Verzweiflung zeigte er Entschlossenheit. Er wollte Klarheit. Noch einmal tauchte Göran Vrede auf. Seine Augen waren gerötet, und diesmal nahm er den Notizblock gar nicht erst in die Hand. Artur wollte wissen, was geschehen war, und es schien, als wagte Louise erst jetzt, da er in der Nähe war, zuzuhören.
    Göran Vrede wiederholte, was er schon vorher gesagt hatte. Henrik hatte in einem blauen Schlafanzug unter der Decke gelegen, und wahrscheinlich war er schon seit mindestens zehn Stunden tot gewesen, als Louise ihn fand.
    Ganz offensichtlich war, daß nichts eigenartig wirkte. Es fanden sich keine Anzeichen für ein Verbrechen, keine Spuren eines Kampfes, eines Einbruchs oder dafür, daß sich überhaupt jemand anders in der Wohnung aufgehalten hatte, als Henrik sich ins Bett gelegt hatte und gestorben war. Es gab keinen Abschiedsbrief, der auf Selbstmord deuten konnte. Es waren die Ärzte, die am Ende die Wahrheit herausfinden müßten, wenn die Polizei den Fall aus der Hand gab.
    Louise registrierte die Worte, doch sogleich begann etwas in ihr zu nagen. Etwas stimmte nicht. Henrik sprach zu ihr, obwohl er tot war, er bat sie, vorsichtig und aufmerksam zu sein.
    Es war früher Morgen, als Göran Vrede aufstand und ging. Artur hatte darum gebeten, daß man sie allein ließe. Er hob Louise aufs Bett, legte sich dann neben sie und nahm ihre Hand.
    Plötzlich setzte sie sich auf. Jetzt hatte sie verstanden, was Henrik hatte erzählen wollen.
    »Er hat nie im Schlafanzug geschlafen.«
    Artur stand auf.
    »Ich verstehe nicht, was du meinst.«
    »Die Polizei hat gesagt, Henrik habe einen Schlafanzug angehabt. Ich weiß, daß er nie einen Schlafanzug trug. Er hatte zwar ein paar, aber er benutzte sie nie.«
    Er betrachtete sie verständnislos.
    »Er schlief immer nackt«, fuhr sie fort. »Ich bin sicher. Er hat mir erzählt, daß er immer ohne etwas schlief. Es fing damit an, daß er nackt bei offenem Fenster schlief, um sich abzuhärten.«
    »Ich verstehe trotzdem nicht, was du meinst.«
    »Jemand muß ihn getötet haben.«
    Sie sah, daß er ihr nicht glaubte. Da gab sie es auf. Sie hatte keine Kraft mehr. Sie mußte warten.
    Artur setzte sich auf die Bettkante. »Wir müssen Aron benachrichtigen«, sagte er.
    »Warum sollten wir mit ihm reden?«
    »Er ist Henriks Vater.«
    »Aron hat sich nie um Henrik gekümmert. Er ist weg. Er hat hiermit nichts zu tun.«
    »Und trotzdem muß er es erfahren.«
    »Warum?«
    »Das ist einfach so.«
    Sie wollte protestieren, aber er nahm sie in den Arm. »Laß es uns nicht noch schwerer machen, als es schon ist. Weißt du, wo Aron ist?«
    »Nein.«
    »Hattet ihr wirklich keinen Kontakt mehr?« »Keinen.«
    »Gar keinen?«
    »Er rief manchmal an. Schickte hin und wieder Briefe.«
    »Du mußt doch ungefähr wissen, wo er lebt.«
    »Australien.«
    »Ist das alles, was du weißt? Wo in Australien?«
    »Ich weiß nicht einmal, ob es noch stimmt. Er war ein Fuchs, der keine Nachsendeadresse hinterließ. Er grub sich die ganze Zeit neue Höhlen, die er wieder verließ, wenn er ruhelos wurde.«
    »Es muß doch möglich sein, ihn zu finden. Weißt du nicht, wo in Australien?«
    »Nein. Er schrieb einmal, er wolle am Meer leben.«
    »Australien ist von Meer umgeben.«
    Er erwähnte Aron nicht wieder. Aber sie wußte, daß Artur nicht klein beigeben würde, bis er alles Erdenkliche getan hatte, um ihn zu finden.
    Dann und wann schlief sie, und wenn sie wach wurde, war er immer an ihrer Seite. Manchmal sprach er am Telefon oder gedämpft mit einem Polizisten. Sie hörte nicht mehr zu, die Erschöpfung hatte ihr Bewußtsein so weit zusammengepreßt, daß sie keine Einzelheiten mehr unterscheiden konnte. Nur der Schmerz war da und der gnadenlose Alptraum, der sie nicht loslassen wollte.
    Sie wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, als Artur sagte, daß sie nach Härjedalen fahren würden. Sie leistete keinen Widerstand, sondern folgte ihm hinunter zu einem Wagen, den er gemietet hatte. Sie fuhren schweigend nach Norden, er hatte die Küstenroute
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