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Kennedys Hirn

Kennedys Hirn

Titel: Kennedys Hirn
Autoren: Henning Mankell
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beantwortete, auf die er wiederum antwortete. Als bewegten sie sich in Kreisen umeinander.
    Aber nur eins war sicher: Henrik war gestorben. Göran Vrede sagte, es gebe keinerlei Anzeichen, die auf Fremdeinwirkung schließen ließen. Ob Henrik krank gewesen sei? Sie antwortete, Henrik sei nie krank gewesen, die Kinderkrankheiten seien gekommen und gegangen, ohne Spuren zu hinterlassen, selten oder nie habe er Entzündungen gehabt. Göran Vrede machte Notizen auf einem kleinen Block. Sie blickte auf seine dicken Finger und fragte sich, ob sie sensibel genug waren, die Wahrheit zu finden.
    »Jemand muß ihn getötet haben«, sagte sie.
    »Es gibt keine Zeichen äußerer Gewaltanwendung«, sagte er.
    Sie wollte protestieren, doch ihr fehlte die Kraft. Sie saßen immer noch in der Küche. Göran Vrede fragte, ob sie jemanden habe, den sie anrufen könne. Er reichte ihr ein Telefon, und sie rief ihren Vater an. Wenn Aron nicht da war und Verantwortung übernahm, mußte ihr Vater einspringen. Es klingelte am anderen Ende, aber er nahm nicht ab. Vielleicht war er draußen im Wald und meißelte seine Skulpturen. Das Telefon erreichte ihn nicht. Aber wenn sie laut genug schrie, könnte er sie dann hören? Im gleichen Augenblick meldete er sich.
    Sie begann sofort zu weinen, als sie seine Stimme hörte. Es war, als machte sie einen gewaltigen Zeitsprung und verwandelte sich wieder in das hilflose Wesen, das sie einmal gewesen war.
    »Henrik ist tot.«
    Sie konnte hören, wie er atmete. Er hatte Bärenlungen, die zu füllen es riesiger Sauerstoffmengen bedurfte.
    »Henrik ist tot«, wiederholte sie.
    Sie hörte, wie er etwas zischte, vielleicht sagte er »Mein Gott«, aber es konnte auch ein Fluch sein.
    »Was ist passiert?«
    »Ich sitze in seiner Küche. Ich bin hergekommen. Er lag im Bett. Aber er war tot.«
    Sie wußte nicht, was sie noch sagen sollte, und gab das Telefon Göran Vrede zurück, der aufstand, wie um sein Beileid zu bekunden. Als sie seine Schilderung hörte, sah sie ein, daß Henrik wirklich tot war. Es waren nicht nur Worte und Einbildungen, ein makabres Spiel mit Sinneswahrnehmungen und ihrem eigenen Entsetzen. Er war wirklich tot.
    Göran Vrede beendete das Gespräch.
    »Er hat gesagt, er habe getrunken und wolle nicht fahren. Aber er würde ein Taxi nehmen. Wo wohnt er?«
    »In Härjedalen.«
    »Und er nimmt ein Taxi? Das sind doch fünfhundert Kilometer!«
    »Er nimmt ein Taxi. Er hat Henrik geliebt.«
    Sie wurde in ein Hotel gebracht, wo man ihr ein Zimmer bestellt hatte. Solange sie auf Artur wartete, waren ständig Menschen bei ihr, meistens in Uniform. Sie bekam weitere Beruhigungsmittel, vielleicht schlief sie ein, das wußte sie nachher nicht genau. Henriks Tod war während dieser ersten Stunden wie in Nebel gehüllt.
    Der einzige Gedanke, den sie von diesem Abend behalten konnte, während sie auf das Taxi mit Artur wartete, war, daß  Henrik einmal eine mechanische Hölle konstruiert hatte. Warum sie sich gerade daran erinnerte, wußte sie nicht, es war, als wären all ihre inneren Regale mit den Erinnerungen eingestürzt und der gesamte Inhalt wäre durcheinandergeraten. Nach welchem Gedanken oder welchem Erinnerungsbild sie auch zu greifen versuchte, sie bekam etwas Unerwartetes in die Hand.
    Henrik war damals fünfzehn oder sechzehn Jahre alt gewesen. Sie stand kurz vor dem Abschluß ihrer Doktorarbeit über den Unterschied zwischen attischen Bronzezeitgräbern und den Grabbefunden im nördlichen Griechenland. Es war eine Zeit voller Zweifel an der Qualität ihrer Doktorarbeit, voller Schlaflosigkeit und Unruhe. Henrik war rastlos und aggressiv aufgetreten, er hatte seinen abgebrochenen Aufruhr gegen den Vater gegen sie gerichtet, und sie hatte befürchtet, er könne in einen Kreis von Klassenkameraden abgleiten, in dem Drogen und Verachtung der Gesellschaft die Triebkräfte waren. Aber alles war vorübergezogen, und eines Tages hatte er ihr das Bild einer mechanischen Hölle gezeigt, die es in einem Museum in Kopenhagen gab. Er hatte gesagt, er wolle die Hölle sehen, und ihr war sogleich klar gewesen, daß er nicht davon abzubringen sein würde. Sie hatte vorgeschlagen, mit ihm hinzufahren. Es war zu Beginn des Frühjahrs, sie sollte im Mai ihre Doktorarbeit verteidigen und brauchte ein paar freie Tage.
    Die Reise hatte sie einander nähergebracht. Zum ersten Mal hatten sie den Schritt über das Mutter-Kind-Verhältnis hinaus getan. Er stand im Begriff, erwachsen zu werden, und verlangte von
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