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Kennedys Hirn

Kennedys Hirn

Titel: Kennedys Hirn
Autoren: Henning Mankell
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Hindernisse für die Weiterführung der Grabungen. Götter, die seit langem jede Bedeutung verloren hatten, konnten kaum irgendeinen Einfluß auf das Geschehen in den entfernten schwedischen Behörden haben, wo die unterschiedlichen archäologischen Grabungsetats abgelehnt oder bewilligt wurden. Die Bürokratie war ein Tunnelsystem mit Eingängen und Ausgängen, doch nichts dazwischen, und die Beschlüsse, die schließlich in den heißen griechischen Grabungsstätten eintrafen, waren häufig äußerst schwer verständlich.
    Ein Archäologe gräbt immer aus einer zweifachen Gnade, dachte sie. Wir wissen nie, ob wir finden, was wir suchen, oder ob wir suchen, was wir finden wollen. Wenn wir das Richtige finden, ist die Gnade groß gewesen. Doch wir wissen nie, ob wir die Erlaubnis und das Geld bekommen, weiter in die wunderbaren Ruinenwelten einzudringen, oder ob das Euter plötzlich zu versiegen beschließt.
    Es war ihr persönlicher Beitrag zum Archäologenjargon, die bewilligenden Behörden als Kühe mit launischem Euter zu betrachten.
    Sie sah auf die Uhr. Es war in Griechenland kurz nach acht, eine Stunde früher als in Schweden. Sie streckte sich nach dem Telefon und wählte die Nummer ihres Sohns in Stockholm.
    Es klingelte, doch niemand nahm ab. Als der Anrufbeantworter ansprang, lauschte sie seiner Stimme mit geschlossenen Augen.
    Es war eine Stimme, die sie ruhig machte. »Dies ist ein Anrufbeantworter, und du weißt, was du tun mußt. Ich wiederhole auf englisch. This is an answering machine and you know what to do. Henrik.«
    Sie sprach ihre Nachricht: »Vergiß nicht, daß ich nach Hause komme. Ich bin zwei Tage in Visby, Bronzezeit, du weißt schon. Danach komme ich nach Stockholm. Ich liebe dich. Wir sehen uns bald. Vielleicht rufe ich nachher noch einmal an. Wenn nicht, melde ich mich aus Visby.«
    Sie holte die Keramikscherbe, an der sie sich den Fuß aufgeschnitten hatte. Eine ihrer engsten Mitarbeiterinnen, eine eifrige Studentin aus Lund, hatte sie gefunden. Es war eine Keramikscherbe wie Millionen anderer Scherben, ein Stück attischer Keramik, und sie vermutete, daß der Krug, zu dem sie gehörte, kurz vor dem Aufkommen der später dominierenden roten Farbe hergestellt worden war, sie dachte an das frühe fünfte Jahrhundert.
    Sie liebte das Puzzlespiel mit Keramikscherben, liebte es, sich ganze Gefäße vorzustellen, die sie vielleicht niemals würde rekonstruieren können. Sie würde Henrik die Scherbe als Geschenk mitnehmen. Sie legte sie auf ihren fertig gepackten Koffer, dessen Schloß darauf wartete, geschlossen zu werden.
    Wie immer vor einer Abreise fühlte sie sich rastlos. Es fiel ihr schwer, sich gegen die wachsende Ungeduld zu wehren, und sie beschloß, ihre Pläne für den Abend zu ändern. Bis sie sich an der Scherbe geschnitten hatte, war sie darauf eingestellt gewesen, ein paar Abendstunden dem Aufsatz über die attische Keramik zu widmen, an dem sie arbeitete. Doch jetzt löschte sie die Lampe auf ihrem Arbeitstisch, stellte den Plattenspieler an und ließ sich in den Schaukelstuhl fallen.
    Wie meistens, wenn sie Musik hörte, begannen draußen in der Dunkelheit die Hunde zu bellen. Sie gehörten ihrem nächsten Nachbarn Mitsos, einem Junggesellen und Mitbesitzer an einem Bagger. Ihm gehörte auch das kleine Haus, das sie mietete. Die meisten ihrer Mitarbeiter wohnten in Argos, aber sie hatte es vorgezogen, in der Nähe der Ausgrabung zu bleiben.
    Sie war beinah eingeschlafen, als sie zusammenschrak. Plötzlich fühlte sie, daß sie die Nacht nicht allein verbringen wollte. Sie stellte den Ton leiser und rief Vassilis an. Er hatte versprochen, sie am nächsten Tag nach Athen zu bringen. Da die Lufthansa-Maschine nach Frankfurt sehr früh abging, würden sie schon um halb vier Uhr losfahren müssen. Sie wollte in einer Nacht, in der sie sowieso nur unruhigen Schlaf finden würde, nicht allein sein.
    Sie blickte zur Uhr und dachte, daß Vassilis noch in seinem Büro wäre. Eine ihrer seltenen Streitereien hatte seinem Beruf gegolten. Vermutlich war ihre Äußerung, Rechnungsprüfer müsse der brennbarste Beruf sein, den es gebe, nicht besonders feinfühlig gewesen.
    Sie erinnerte sich noch an die genaue Formulierung, die sie benutzt hatte, eine unbeabsichtigte Bosheit.
    »Der brennbarste Beruf, den es gibt. So knochentrocken und leblos, daß er sich jeden Augenblick von selbst entzünden kann.«
    Er war erstaunt gewesen, vielleicht traurig, vor allem aber wütend. In dem Moment
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