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Kennedys Hirn

Kennedys Hirn

Titel: Kennedys Hirn
Autoren: Henning Mankell
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Moment, ihre Beziehung mit Vassilis zu beenden. Sie würde das Rechnungsbuch abschließen, es beenden, genauso wie sie ihre Tasche zugeklappt hatte.
    Sie streckte sich auf dem Bett aus und betrachtete den stummen Deckenventilator. Wie hatte sie überhaupt ein Verhältnis mit Vassilis haben können? Auf einmal war es ihr unbegreiflich, sie war angewidert, aber nicht von ihm, sondern von sich selbst.
    Der Ventilator an der Decke war stumm, die Eifersucht war verflogen, und die Hunde draußen im Dunkeln schwiegen. Wie sie es immer tat, wenn sie vor einer wichtigen Entscheidung stand, redete sie sich in Gedanken mit ihrem Namen an.
    Dies ist Louise Cantor im Herbst 2004, hier hat sie ihr Leben, schwarz auf weiß, oder eher rot auf schwarz, was die übliche Farbkombination auf den Urnenfragmenten ist, die wir aus der griechischen Erde graben. Louise Cantor ist vierundfünf zig Jahre alt, sie erschrickt nicht, wenn sie ihr Gesicht oder ihren Körper im Spiegel sieht. Sie ist immer noch ansprechend, noch nicht alt, Männer sehen sie, auch wenn sie sich nicht nach ihr umschauen. Und sie? Nach wem schaut sie sich um? Oder richtet sie ihren Blick nur auf die Erde, da es sie weiterhin reizt, nach Absichten und Abdrücken der Vergangenheit zu suchen? Louise Cantor hat ein Buch geschlossen, das Vassilis heißt, es wird nie mehr geöffnet. Es wird ihm nicht einmal mehr erlaubt sein, Louise Cantor morgen zum Flugplatz von Athen zu fahren.
    Sie stand auf und suchte die Nummer eines örtlichen Taxiunternehmens. Sie bekam eine schwerhörige Frau an den Apparat und mußte ihre Bestellung schreien. Nun konnte sie nur hoffen, daß der Wagen auch wirklich kam. Weil Vassilis zugesagt hatte, um halb vier bei ihr zu sein, bestellte sie das Taxi für drei Uhr.
    Sie setzte sich an ihren Arbeitstisch und schrieb einen Brief an Vassilis. »Es ist Schluß, es ist vorbei. Alles hat ein Ende, ich spüre, daß ich mich auf etwas Neues zubewege. Es tut mir leid, daß du umsonst gekommen bist, um mich abzuholen. Ich habe versucht, dich anzurufen. Louise.«
    Sie las den Brief noch einmal durch. Bereute sie es? Es kam vor, daß sie das tat, sie hatte in ihrem Leben viele Abschiedsbriefe geschrieben, die nie abgesandt wurden. Doch diesmal nicht. Sie steckte den Brief in einen Umschlag, klebte ihn zu und ging in der Dunkelheit hinaus zum Briefkasten, wo sie ihn mit einer Wäscheklammer befestigte.
    Sie schlummerte ein paar Stunden auf dem Bett, trank ein Glas Wein und starrte auf eine Dose mit Schlaftabletten, ohne sich entscheiden zu können.
    Das Taxi kam drei Minuten vor drei, es war noch dunkel. Sie wartete draußen am Tor. Mitsos' Hunde bellten nicht. Sie sank auf den Rücksitz und schloß die Augen. Erst jetzt, da die Reise begonnen hatte, konnte sie einschlafen.
    Im Morgengrauen erreichte sie den Flughafen. Ohne daß sie es ahnte, näherte sie sich der großen Katastrophe.
    A ls sie ihren Koffer bei einer der morgenmüden Lufthansaangestellten eingecheckt hatte und auf dem Weg zur Sicherheitskontrolle war, geschah etwas, was einen tiefen Eindruck bei ihr hinterließ.
    Später sollte sie denken, daß sie es als Omen hatte auffassen müssen, als Warnung. Doch sie tat es nicht, sie entdeckte nur eine einsame Frau, die mit ihren Bündeln und altmodischen,, mit Schnüren zugebundenen Kleidertaschen auf dem Steinfußboden saß. Die Frau weinte. Sie war vollkommen reglos, ihr Gesicht nach innen gekehrt, sie war alt, ihre eingesunkenen Wangen erzählten von vielen fehlenden Zähnen. Vielleicht war sie aus Albanien, dachte Louise Cantor. Viele albanische Frauen suchen Arbeit hier in Griechenland, sie nehmen jede Arbeit an, weil wenig besser ist als nichts und weil Albanien ein erbarmungslos armes Land ist. Sie trug einen Schal um den Kopf, den Schal der ehrbaren älteren Frau, sie war keine Moslime, und sie saß auf dem Boden und weinte. Die Frau war allein, es war, als wäre sie hier auf dem Flughafen an Land getrieben, umgeben von ihren Bündeln, ihr Leben war zerschlagen, ein Haufen wertloses Strandgut war alles, was übrig war.
    Louise Cantor blieb stehen, eilige Menschen stießen sie an, doch sie blieb stehen, als stemmte sie sich gegen einen starken Wind. Das Gesicht der Frau zwischen den Bündeln auf dem Boden war braun und zerfurcht, ihre Haut war wie eine erstarrte Lavalandschaft. Es gab eine besondere Art von Schönheit in den Gesichtern alter Frauen, wo alles bis auf eine dünne Haut über den Knochen abgeschliffen ist, wo alle Geschehnisse des
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