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Kennedys Hirn

Kennedys Hirn

Titel: Kennedys Hirn
Autoren: Henning Mankell
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Lebens eingeschrieben sind. Zwei eingekerbte, ausgetrocknete Furchen zogen sich von den Augen die Wangen hinab, jetzt füllten sie sich mit den Tränen der Frau.
    Sie begießt einen mir unbekannten Schmerz, dachte Louise Cantor. Aber etwas von ihr habe ich auch in mir.
    Die Frau hob plötzlich den Kopf, ihre Blicke begegneten sich für einen kurzen Augenblick, und sie schüttelte langsam den Kopf. Louise Cantor nahm dies als ein Zeichen, daß ihre Hilfe, worin sie auch hätte bestehen können, nicht benötigt wurde. Sie hastete weiter zur Sicherheitskontrolle, drängte sich durch die schubsenden Menschen, jagte durch Duftwolken von Knoblauch und Oliven. Als sie sich umwandte, war es, als wäre ein Vorhang von Menschen zwischen sie gezogen worden, die Frau war nicht mehr zu sehen.
    Louise Cantor hatte ein Tagebuch, in dem sie seit ihrer frühen Jugend Ereignisse aufschrieb, von denen sie meinte, sie würde sie nie vergessen. Dies war ein solcher Moment. In Gedanken formulierte sie schon, was sie schreiben würde, während sie ihre Handtasche auf das Rollband der Sicherheitskontrolle und ihr Telefon in eine kleine blaue Plastikbox legte und anschließend durch die magische Sperre schritt, die böse Menschen von guten trennte.
    Sie kaufte eine Flasche Tullamore Dew für sich und zwei Flaschen Retsina für Henrik. Dann setzte sie sich in die Nähe des Ausgangs und entdeckte zu ihrem Ärger, daß sie ihr Tagebuch in der Argolis vergessen hatte. Sie sah es vor sich, es lag am Tischende neben der grünen Lampe. Sie holte das Seminarprogramm und notierte auf der Rückseite:
    »Weinende alte Frau auf dem Flugplatz von Athen. Ein Gesicht, als wäre sie eigentlich eine menschliche Ruine, nach Jahrtausenden von einem neugierigen und aufdringlichen Archäologen ausgegraben. Warum weinte sie? Diese universelle Frage. Warum weint ein Mensch?«
    Sie schloß die Augen und versuchte sich vorzustellen, was sich in den Bündeln und kaputten Taschen befunden haben konnte.
    Leere, dachte sie. Taschen, gefüllt mit Leere oder mit der Asche vergangener niedergebrannter Feuer.
    Als ihr Flug aufgerufen wurde, wachte sie mit einem Ruck auf. Sie saß auf einem Gangplatz, der Mann neben ihr schien Flugangst zu haben. Sie beschloß, bis Frankfurt zu schlafen, erst auf der Strecke nach Stockholm würde sie frühstücken.
    Als sie in Arlanda gelandet war und ihren Koffer gefunden hatte, war sie immer noch müde. Sie liebte es, eine Reise vor sich zu haben, nicht aber, sie zu unternehmen. Sie ahnte, daß sie eines Tages auf einer Reise von Panik befallen werden würde. Deshalb hatte sie seit vielen Jahren immer eine Schachtel mit Beruhigungstabletten bei sich, für den Fall, daß der Angstanfall kam.
    Sie suchte den Weg zum Terminal für Inlandflüge, gab ihren Koffer bei einer etwas weniger müden Frau ab als der, bei der sie in Athen eingecheckt hatte, setzte sich und wartete. Durch eine Tür, die aufgestoßen wurde, traf sie ein Windstoß aus dem schwedischen Herbst. Sie fröstelte und dachte, daß sie die Gelegenheit wahrnehmen mußte, einen Pullover aus Got-landwolle zu kaufen, wenn sie schon in Visby war. Gotland und Griechenland hatten die Schafe gemeinsam, dachte sie. Wenn Gotland Olivenhaine hätte, wäre der Unterschied gering.
    Sie überlegte, ob sie Henrik anrufen sollte. Aber er schlief vielleicht, er machte die Nacht oft zum Tag, er arbeitete lieber bei Sternenlicht als bei Sonnenschein. Statt dessen wählte sie die Nummer ihres Vaters in Ulvkälla in der Nähe von Sveg, auf der Südseite des Ljusnan. Er schlief nie, ihn konnte sie zu jeder Tages- und Nachtzeit anrufen. Noch nie war es ihr gelungen, ihn dabei zu erwischen, daß er schlief, wenn sie anrief. Daran erinnerte sie sich auch aus ihrer Kindheit. Sie hatte einen Vater, der den Schlaftroll überlistet hatte, einen riesigen Mann mit stets geöffneten Augen, stets wachend, bereit, sie zu verteidigen.
    Sie wählte die Nummer, brach aber nach dem ersten Klingeln ab. Gerade im Augenblick hatte sie ihm nichts zu sagen. Sie steckte das Telefon ein und dachte an Vassilis. Er hatte sie nicht auf ihrem Handy angerufen und eine Nachricht auf ihrer Mailbox hinterlassen. Aber warum sollte er? Sie spürte einen Anflug von Enttäuschung, verwarf die Empfindung aber sogleich, es gab keinen Grund, zu bereuen. Louise Can-tor stammte aus einer Familie, in der man einmal gefaßte Entschlüsse nicht bereute, selbst wenn sie völlig verfehlt waren. Man machte gute Miene auch zum bösesten Spiel.
    Es
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