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Wie die Welt endet: Roman (German Edition)

Wie die Welt endet: Roman (German Edition)

Titel: Wie die Welt endet: Roman (German Edition)
Autoren: Will McIntosh
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1
    Die Sippe
    Fr ¸ hlin g 2023
    Durch das kniehohe Unkraut neben dem Highway stolperten etwa zwanzig Mexikaner auf uns zu. Vielleicht waren es auch Ecuadorianer oder Puerto Ricaner, das konnte ich nicht erkennen. Die ganze Sippe war in schlechter Verfassung, eine Frau war bewusstlos und wurde von zwei Männern getragen, und eins der Kinder war offenbar stark erkältet.
    Ein kleiner dunkelhäutiger Mann ohne Schneidezähne und mit dem Blick eines Waisenkindes sprach für alle. » Por favor, dinero o comida?« Er bat uns um Geld oder Essen.
    » Lo siento«, sagte ich, tut mir leid. Ich hob die leeren Handflächen. » No tengo nada.«
    Der Mann nickte, ließ den Kopf hängen.
    Schweigend gingen Colin und ich weiter. Wir fühlten uns beschissen. Wenn wir genug übrig gehabt hätten, hätten wir ihnen etwas gegeben.
    Angenommen, man ist im Moment noch nicht am Verhungern, aber vielleicht in einem Monat– muss man dann Menschen, die jetzt vom Hungertod bedroht sind, etwas von seinem Essen abgeben? Wo ist die Grenze? Wie arm muss man sein, damit man kein egoistisches Arschloch ist, wenn man andere verhungern lässt?
    » Das ist schwer zu begreifen«, sagte Colin, während wir den leeren, vor Hitze dampfenden Parkplatz des Bowling-Centers überquerten.
    » Was denn?«
    » Dass wir arm sind. Und obdachlos.«
    » Ich weiß.«
    » Dabei sind wir doch Akademiker«, fügte er hinzu.
    » Ja, ich weiß«, erwiderte ich.
    Neben dem Bowling-Center befand sich eine uralte, von Unkraut überwucherte Minigolf-Anlage. An manchen Stellen war der Kunstrasen völlig verrottet. Die Windmühle hatte nur noch einen Flügel. Wir betrachteten die Anlage einen Moment lang, denn beide waren wir leidenschaftliche Minigolfer gewesen; dann gingen wir weiter zum Eingang des Bowling-Centers.
    » Weißt du, was ich gerne mal sehen würde?«, fragte Colin. » Wofür ich sogar Eintritt bezahlen würde?«
    » Ja.« Aber er überhörte meine Antwort.
    » Ein Golfturnier mit richtig schlechten Golfern und einer Million Dollar als Preisgeld, dafür würde ich sogar bezahlen. Das Beste an solchen Golfturnieren ist doch, wie manche Burschen unter Druck die Nerven verlieren und dann Grassoden hochschlagen, die weiter fliegen als der Ball.«
    » Ja, das wär sicher ein lohnendes Schauspiel«, sagte ich und wich irgendeinem kleinen, halb verwesten Tierkadaver aus. » Übrigens sind wir nicht Obdachlose, sondern Nomaden. Steck uns nicht in die falsche Schublade.«
    » Ach ja, das hatte ich ganz vergessen.« Colin war schon immer ein Meister des Sarkasmus gewesen, bereits in der Grundschule hatte er diesen Tonfall beherrscht. Er erreichte den Haupteingang als Erster, zog die Tür auf und winkte mich hindurch.
    Als Junge hatte ich in allen möglichen Ligen Bowling gespielt, umso überraschter war ich daher, dass das Klappern der Pins keine nostalgischen Gefühle in mir weckte. Vielleicht lag es daran, dass die Halle im Halbdunkel lag; nur etwas Tageslicht schien durch Türen und Fenster herein.
    An der Bahn, die dem Eingang am nächsten lag, bückte sich gerade ein rauschebärtiger Typ zum zweiten Wurf. Es gelang ihm nicht, die Pins alle abzuräumen. Er ging auf der Bahn in die Dunkelheit hinein, um sie von Hand wieder aufzustellen.
    Das war ein gutes Zeichen. Wenn die automatischen Pin-Setter abgeschaltet waren, wurde hier dringend Strom benötigt. In der Halle waren nur ein halbes Dutzend Ventilatoren in verschiedenen Größen und Formen verteilt, die wie Modellflugzeuge brummten. Anscheinend waren es die einzigen Geräte, die an den Stromgenerator angeschlossen waren.
    Colin blieb stehen. » Hast du den Akku dabei? Ich habe überhaupt nicht daran gedacht.«
    Ich holte den Akku aus der Tasche und hielt ihn Colin vor die Nase.
    » Da bin ich aber erleichtert«, sagte er. » Ich hätte keine Lust, jetzt den ganzen Weg zurückzulaufen, um ihn zu holen. Komm, wir bringen die Sache hinter uns und machen uns schnellstmöglich wieder vom Acker.«
    Mit einer gebimmelten Melodie kündigte mein Handy mir eine neue SMS an. Ich schreckte zusammen und versuchte es möglichst lässig aus der Tasche zu holen. Um die Nachricht lesen zu können, musste ich das Display zum Fenster neigen.
    Vermisse dich, stand da.
    Vermisse dich auch. Liebe dich, simste ich zurück.
    Hätten andere so klischeehaft kommuniziert, dann hätte es mich geschüttelt, aber selbst die abgegriffensten Plattitüden wirkten neu und aussagekräftig, wenn Sophia und ich sie austauschten. Liebe dich so sehr.
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