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Bernsteinaugen und Zinnsoldaten

Bernsteinaugen und Zinnsoldaten

Titel: Bernsteinaugen und Zinnsoldaten
Autoren: Joan D. Vinge
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Bernsteinaugen
EYES OF AMBER
     
    Das Bettelweib schlurfte die abendlich stille Straße zur rückwärtigen Front von Lord Chwiuls Landhaus entlang. Sie zögerte, blinzelte zu den schwach erleuchteten Türmen empor, dann krallte sie sich am Ärmel des Wachmannes fest. „Auf ein Wort, Meister …“
    „Rühr mich nicht an, Schlampe!“ Der Wachmann hob angeekelt den Speerschaft.
    Ein rascher Fußtritt aus den Lumpen hervor brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Er fand sich auf dem Rücken im Schlamm des Frühlings liegend wieder, der Speer, von einem anderen Händepaar gehalten, deutete auf seinen Bauch. Er keuchte sprachlos.
    Die Bettlerin warf ihm ein Amulett auf die Brust. „Schau dir das an, du Narr! Ich habe Geschäfte mit deinem Herrn.“
    Die Bettlerin trat einen Schritt zurück, die Speerspitze wippte ungeduldig.
    Der Wachmann wand sich in Schlamm und Schmutz und hielt das Amulett in dem spärlichen Licht dicht vors Gesicht. „Sie … Sie sind das? Sie dürfen passieren.“
    „Wahrhaftig!“ Unterdrücktes Gelächter. „Wahrhaftig, ich darf passieren – aus vielen Gründen und an vielen Orten. Das Rad der Veränderung trägt uns alle.“ Sie hob den Speer. „Steh auf, Narr … und du brauchst mich nicht zu begleiten. Ich werde erwartet.“
    Der Wachmann stand zitternd und tropfend wieder auf, er wich zurück, während sie die Membranen ihrer Schwingungen aus dem Stoff befreite. Er sah zu, wie sie sich glitzernd entfalteten, als sie sich anschickte, mühelos zum Eingang des Turms emporzuspringen, der sich in doppelter Mannshöhe über ihm befand. Er wartete, bis sie im Innern verschwunden war, ehe er es wagte, hinter ihr herzufluchen.
    „Lord Chwiul?“
    „T’uupieh, nehme ich an.“ Lord Chwiul beugte sich etwas von seiner Liegestatt aus wohlriechenden Moosen empor, um in den Schatten des Saales zu starren.
    „ Lady T’uupieh.“ T’uupieh trat nach vorne ins Licht und entfernte die zerlumpte Larve von ihrem Gesicht. Es bereitete ihr eine diabolische Freude, keinerlei Anzeichen von Ehrerbietung zu zeigen, indem sie auf ihn zuschritt wie eine Gleichgestellte zu einem Gleichgestellten. Das sanfte Kitzeln Hunderter winziger Miih fäden am Boden ließ ihre schwieligen Fußsohlen kribbeln. Es kommt zu einfach zurück, nach so langer Zeit …
    Sie entschied sich für die Couch neben dem niederen Wassersteintischchen und räkelte sich gleichgültig in ihren Bettlerlumpen. Sie fuhr eine Fingerklaue aus und nahm sich damit eine saftige Kelet beere aus der Obstschale auf der geschnitzten Tischoberfläche, die sie in ihren Mund und ihre Kehle hinabgleiten ließ, wie sie das früher schon so oft getan hatte, vor so langer Zeit. Dann endlich sah sie auf, um das Ausmaß seines Zorns abzuschätzen.
    „Du wagst es, auf diese Weise zu mir zu kommen …“
    Zufriedenstellend. Ja, sehr … „Ich bin nicht zu Euch gekommen. Ihr kamt zu mir … Ihr suchtet meine Dienste.“ Ihre Augen sahen sich mit affektierter Gleichgültigkeit in dem Raum um und nahmen die kostbaren Fresken in den Wassersteinwänden zur Kenntnis, die sogar sein einfaches Privatgemach schmückten. Oder gerade dieses Gemach, fragte sie sich. Wie viele mitternächtliche Zusammenkünfte um wie vieler Intrigen willen waren hier schon abgehalten worden? Chwiul war nicht der Wohlhabendste seiner Familie oder seines Klans, doch Zurschaustellung von Reichtum und Macht zählten in dieser Stadt, in dieser Welt – denn Reichtum und Macht waren alles.
    „Ich suchte die Dienste von T’uupieh der Meuchlerin. Es überrascht mich etwas, daß die Lady T’uupieh sie hierher begleitete.“ Chwiul hatte seine Fassung wiedergefunden, sie sah, wie ihrer beider Atem beim Sprechen kondensierte.
    „Wohin die eine geht, dahin folgt ihr die andere. Wir sind unzertrennlich. Gerade Ihr solltet das am allerbesten wissen, mein Lord.“ Sie sah zu, wie er mit seinem langen, bleichen Arm gleich mehrere Beeren auf einmal nahm. Ungeachtet der Kälte der Nacht trug er nur eine einfache Körpertunika, die es ihm ermöglichte, die funkelnden und glitzernden Juwelen zur Schau zu stellen, die über die Oberfläche seiner Schwingen tanzten.
    Er lächelte. Sie sah die etwas ausgefahrenen scharfen Fänge. „Weil mein Bruder die eine aus der anderen machte, als er sich dein Land aneignete? Es überrascht mich, daß du überhaupt gekommen bist – weshalb glaubst du, mir vertrauen zu können?“ Seine Bewegungen waren bar jeglicher Anmut; sie erinnerte sich daran, wie die Juwelen
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