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Bewegt Euch

Bewegt Euch

Titel: Bewegt Euch
Autoren: Hajo Schumacher
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Anpfiff: Mein Gewissen heißt Achim
    Anpfiff:
    Mein Gewissen heißt Achim

    Abb. a
    Zwanzig Jahre vierzig sein.
    Astrid Benöhr , Jahrgang 1957, Ultra-Triathletin
    Ich bin ein Mann in der Blüte seiner Jahre. Das rede ich mir so verzweifelt ein wie die meisten meiner Zeitgenossen in der rasend kurzen Zeit zwischen Führerscheinprüfung und Rollator. Seit der Hausarzt erstmals zur Prostata-Vorsorge riet, ahne ich, dass die Geschichte mit der Blüte gar nicht stimmt. Leben ist Welken.
    Verzweifelt habe ich versucht, mich gegen den Verfall zu stemmen. Aber Polohemden mit Wappen, Stretchjeans und Eiweißdrinks helfen ebenso wenig wie all die Magazine und Trainer, die auf ihren Fotos immer drahtiger aussehen als in Wirklichkeit.
    Bleibt selbst die Anschaffung des teuren Koffein-Shampoos vergebens, fliehen wir in die düstere Welt der Lebenshilfe- In dustrie. Wir lernen, dass wir uns gefälligst dufte finden sollen und legen Listen über unsere vermeintlichen Qualitäten an: Was ich noch Tolles erleben will! Was mich so besonders macht! Was ich gleich morgen ganz bestimmt ändern werde! Bewegung steht immer oben.
    Die nächsten Listen schreiben wir unter Aufsicht eines Psychologen, in dessen Hände wir uns begeben haben. Er sagt, dass Burn-out auch eine Chance sei, und ermutigt uns, all unsere Probleme und Sorgen und Ängste mal ganz ehrlich zu formulieren.
    Meine Liste des Schreckens sah vor zehn Jahren so aus:
keine Zeit, für gar nichts, schon gar nicht für mich
obsessive Kühlschrankvisiten, auch nach Mitternacht
ich sollte mich mal wieder bewegen
Panik vor unheilbaren Krankheiten
zu wenig frische Luft
schlechtes Gewissen wegen der Kinder
Herzzucken nimmt zu
Angst vor Urlaub
keiner mag mich, ich schon gar nicht
unruhiger Schlaf
Internet-Sucht
Definition für »Depression« bei Google nachgeguckt
Zu viel Rotwein. Weißwein auch. Und Bier erst recht.
Druck von allen Seiten
beim Scrabble lange überlegt, welches Wort sich aus den Buchstaben »S«, »E« und »X« legen lässt
Spiegel-Phobie
Angst, angesprochen zu werden
unzufrieden mit der Gesamtsituation
Angst vorm nächsten Anzugkauf
Anflüge von Tinnitus
Angst, nicht angesprochen zu werden
Erklärung für rasselnde Lunge bei Google nachgeguckt
»Apotheken-Umschau« durchgeblättert
Pläne für vorgetäuschten Unfall und heimliche Auswanderung schmieden
Welche Allergie passt zu mir?
sicherheitshalber nie mehr die Sinnfrage stellen
Tagesmüdigkeit mit Augenflimmern
Schwamm in Kopf und Körper
Panik vor jüngeren Kollegen
immer mehr Sätze beginnen mit »Früher …«
    Diese Liste war keinesfalls vollständig, beschrieb aber präzise mein Befinden. Ich war durch und durch verseucht mit schlechtem Gewissen. Eigentlich hätte alles okay sein müssen; ich war ja in der Blüte meiner Jahre. Aber in Wirklichkeit war gar nichts okay. Ich fühlte mich mit dem Leben und vor allem mir selbst heillos überfordert, verwirrt, verloren, verfressen. Denken und Fühlen drehten sich in ein schwarzes, saugendes Loch. Viel zu viel Angst. Ich war schuld. Dabei gab es noch nicht mal Facebook.
    Da stand plötzlich Achim vor mir. Ich weiß bis heute nicht, woher er kam. Aber er war für mich, was der weiße Hirsch für Harry Potter war – Rettung. Achim Achilles war zunächst nur mein Pseudonym für eine Lauf-Kolumne bei www . spiegel.de . Seit acht Jahren geht es dort um Menschen in der Blüte ihrer Jahre, die sich beim Marathon schinden, ihre Familien zur Alpenüberquerung treiben, die hässliche Spezialfaserklamotten tragen und sich kohlehydratarm zu ernähren versuchen; Menschen wie du und ich, die dem Alter entkommen wollen, indem sie sich angestrengt bewegen. Je nach Umfrage sind das zwischen 20 und 40 Millionen Deutsche.
    Jede Woche aufs Neue konfrontiert dieser Achim mich mit meinen eigenen Unzulänglichkeiten, mit merkwürdigem Verhalten anderer und exotischen Blessuren. Von Berufs wegen arbeite ich fortwährend mein schlechtes Gewissen auf und ab und schreibe es nieder. Wie einer im Heim, der was ausgefressen hat.
    Das ist anstrengend.
    Aber hilfreich.
    Denn ich reflektiere, auch wenn ich gar nicht richtig will. Und jetzt kommt Achim ins Spiel. Er ist das, was früher mein schlechtes Gewissen war. Seit es einen Namen hat und mein Gesicht, hat das Gewissen viel von seiner zerstörerischen Macht verloren. Wir sind nicht länger Feinde, sondern nahezu befreundet.
    Wie ein anständiges schlechtes Gewissen ist Achim Rivale, Kritiker, Antreiber, zügellos und ehrgeizig, faul und
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