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Kennedys Hirn

Kennedys Hirn

Titel: Kennedys Hirn
Autoren: Henning Mankell
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hatte sie begriffen, daß er sich tatsächlich nicht allein ihres Sexuallebens annahm. Er war ein Mann, mit dem sie ihre Freizeit teilen konnte, obwohl oder vielleicht weil er überhaupt nicht an Archäologie interessiert war. Sie hatte befürchtet, er könne so verletzt sein, daß er die Beziehung beendete. Aber sie hatte ihn überzeugen können, daß sie nur einen Scherz gemacht hatte.
    »Die Welt wird von Rechnungsbüchern beherrscht«, hatte sie gesagt. »Rechnungsbücher sind die Liturgie unserer Zeit, Rechnungsprüfer sind unsere Hohenpriester.«
    Sie wählte die Nummer. Besetzt. Sie schaukelte langsam im Stuhl. Vassilis war sie durch einen Zufall begegnet. Aber waren nicht alle wichtigen Begegnungen im Leben Zufälle ?
    Ihre erste Liebe, der rothaarige Mann, der Bären jagte, Häuser baute und zwischendurch für lange Perioden in Melancholie versinken konnte, hatte sie eines Tages mitgenommen, als sie nach dem Besuch einer Freundin in Hede den Schienenbus verpaßt hatte und per Anhalter nach Sveg zurückgefahren war. Emil war in einem alten Laster gekommen, sie war sechzehn Jahre alt und hatte es noch nicht geschafft, den Schritt ins Leben zu tun. Er fuhr sie nach Hause. Es war im Spätherbst 1967, sie blieben ein halbes Jahr zusammen, bis sie sich aus seiner riesenhaften Umarmung zu befreien vermochte. Danach zog sie von Sveg nach Östersund, fing auf dem Gymnasium an und beschloß, Archäologin zu werden. In Uppsala gab es andere Männer, und über alle war sie zufällig gestolpert. Aron, den sie heiratete, der Henriks Vater wurde und sie dazu brachte, ihren Namen von Lindblom in Cantor zu ändern, hatte in einem Flugzeug zwischen London und Edinburgh auf dem Platz neben ihr gesessen. Sie hatte ein Stipendium der Universität bekommen, um an einem Seminar über klassische Archäologie teilzunehmen. Aron war unterwegs nach Schottland, um zu angeln, und dort oben am Himmel, hoch über den Wolken, hatten sie angefangen, sich zu unterhalten.
    Sie schob die Gedanken an Aron von sich, um nicht wütend zu werden, und wählte die Nummer noch einmal. Immer noch besetzt.
    Sie verglich stets die Männer, die sie nach der Scheidung getroffen hatte, mit Aron, es geschah unbewußt, doch sie benutzte eine innere Meßlatte, auf der Aron eingekerbt war, und alle, die sie betrachtete, waren zu kurz oder zu lang, zu langweilig, zu unbegabt; kurz gesagt, Aron trug immer den Sieg davon. Sie hatte noch keinen gefunden, der als Herausforderer gegen die Erinnerung an Aron antreten konnte. Es machte sie verzweifelt und wütend zugleich, es war, als bestimmte er noch immer ihr Leben, obwohl er längst nichts mehr zu sagen haben sollte. Er hatte sie betrogen, er hatte sie getäuscht, und als alles ans Licht zu kommen drohte, war er einfach verschwunden, wie ein Spion, der sich zu seinem geheimen Auftraggeber absetzt, wenn die Gefahr besteht, daß er entlarvt wird. Es war für sie ein furchtbarer Schock gewesen, sie hatte nicht geahnt, daß er andere Frauen neben ihr hatte. Eine davon gehörte sogar zu ihren besten Freundinnen, auch sie Archäologin, die ihr Leben der Ausgrabung eines Dionysostempels auf Thasos gewidmet hatte. Henrik war noch sehr klein, sie hatte eine Vertretung als Universitätsdozentin gehabt, während sie versuchte, über das Geschehene hinwegzukommen und ihr zerbrechendes Leben zusammenzuflicken.
    Aron hatte sie zerschmettert, wie ein plötzlicher Vulkanausbruch eine Ortschaft, einen Menschen oder eine Vase zerschmettern konnte. Oft dachte sie an sich selbst, wenn sie mit ihren Keramikscherben dasaß und sich ein Ganzes vorzustellen versuchte, das sie nie würde rekonstruieren können. Aron hatte sie nicht nur in Stücke geschlagen, er hatte auch einen Teil der Scherben versteckt, um es ihr schwerer zu machen, ihre Identität als Mensch, als Frau und als Archäologin wiederzufinden.
    Aron hatte sie ohne Vorwarnung verlassen, er hatte nur einen Brief von wenigen, nachlässig geschriebenen Zeilen zurückgelassen, in denen er ihr mitteilte, daß ihre Ehe beendet sei, er könne nicht mehr, er entschuldige sich und hoffe, sie werde ihren gemeinsamen Sohn nicht gegen ihn aufbringen .
    Danach hörte sie sieben Monate nichts von ihm. Schließlich kam ein Brief aus Venedig. Sie erkannte an der Handschrift, daß er betrunken gewesen war, als er ihn schrieb, einer dieser großartigen Aronräusche, in die er sich zuweilen stürzte, ein konstanter Rausch, der mit Höhepunkten und Tiefen über eine Woche dauern konnte. Jetzt
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