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Kennedys Hirn

Kennedys Hirn

Titel: Kennedys Hirn
Autoren: Henning Mankell
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beendet hatte, und versuchte, sich auf den Vortrag zu konzentrieren, den sie am nächsten Tag halten sollte. Sie trank noch ein Glas Wein und ging in Gedanken noch einmal durch, was sie sagen wollte. Sie hatte ein Manuskript, aber da es ein alter Vortrag war, konnte sie ihn fast auswendig.
    Ich werde über die schwarze Farbe im Ton sprechen. Das rote Eisenoxyd wird während des Brennens durch den Sauerstoffmangel schwarz. Aber das ist die letzte Phase des Brennvorgangs, in der ersten Phase bildet sich das rote Eisenoxyd, die Urne wird rot. Das Rote und das Schwarze haben ihren Ursprung ineinander.
    Der Wein begann zu wirken, ihr Körper wurde warm, ihr Kopf füllte sich mit Wellen, die vor und zurück rollten. Sie zahlte, ging hinaus in den böigen Wind und dachte, daß sie sich schon nach dem kommenden Tag sehnte.
    Sie wählte die Nummer der Wohnung in Stockholm. Immer noch war dort nur der Anrufbeantworter. Wenn es wichtig war, kam es vor, daß Henrik eine bestimmte Nachricht aufs Band sprach, eine Nachricht, die sie mit der ganzen Welt teilte. Sie sagte, daß sie in Visby sei, daß sie auf dem Weg sei. Dann wählte sie die Nummer seines Mobiltelefons. Auch dort keine Antwort.
    Eine vage Besorgnis durchfuhr sie, ein Hauch, so flüchtig, daß sie ihn fast nicht wahrnahm.
    In der Nacht schlief sie bei angelehntem Fenster. Gegen Mitternacht wurde sie davon wach, daß ein paar betrunkene Jungen etwas von einem lockeren Mädchen schrien, das ihnen unerreichbar vorkam.
    Um zehn Uhr am nächsten Tag hielt sie ihren Vortrag über den attischen Ton und seine Konsistenz. Sie sprach von dem reichen Eisenvorkommen und verglich die rote Farbe des Eisenoxyds mit dem kalkreichen Ton von Korinth und der weißen oder sogar grünen Keramik. Nach einer zögernden Einleitung - mehrere Teilnehmer hatten offenbar noch spät zu Abend gegessen und reichlich Wein dazu getrunken - gelang es ihr, das Interesse der Zuhörer zu wecken. Sie sprach genau fünfundvierzig Minuten, wie geplant, und erntete kräftigen Applaus. Während der anschließenden Diskussion wurden ihr keine heiklen Fragen gestellt, und als die Kaffeepause kam, hatte sie das Gefühl, mit ihrem Beitrag den Zweck der Reise erfüllt zu haben.
    Der Wind war schwächer geworden. Sie nahm ihre Kaffeetasse mit in den Hof und balancierte sie auf ihrem Knie, als sie sich auf eine Bank gesetzt hatte. Ihr Telefon summte. Sie war sicher, daß es Henrik sein mußte, aber sie sah, daß der Anruf aus Griechenland kam, es war Vassilis. Sie zögerte, antwortete dann aber nicht. Sie wollte nicht riskieren, in einen nervenaufreibenden Streit zu geraten, dazu war es zu früh am Tag. Vassilis konnte unerträglich sein, wenn er es darauf anlegte. Sie würde schon bald in die Argolis zurückkehren und ihn dann aufsuchen.
    Sie steckte das Telefon in die Tasche, trank ihren Kaffee und beschloß plötzlich, daß es jetzt reichte. Die weiteren Referenten des Tages hatten sicher viel Interessantes zu sagen. Aber sie wollte nicht mehr bleiben. Als ihr Beschluß gefaßt war, nahm sie ihre Tasse und suchte den Mann mit der Narbe auf der Oberlippe. Sie erklärte ihm, ein Freund sei plötzlich erkrankt, es sei nicht lebensbedrohlich, aber doch so ernst, daß sie ihre weitere Teilnahme absagen müsse.
    Später sollte sie diese Worte verfluchen. Sie sollten sie verfolgen, sie hatte nach dem Wolf gerufen, und der Wolf war gekommen.
    Doch gerade jetzt schien die Herbstsonne über Visby. Sie kehrte zum Hotel zurück, die Rezeptionistin half ihr, den Flug umzubuchen, und sie bekam einen Platz in einer Maschine um drei Uhr. Die Zeit reichte noch für einen Spaziergang entlang der Stadtmauer und für den Besuch in zwei Läden, in denen sie handgestrickte Pullover anprobierte, ohne jedoch einen passenden zu finden. Sie aß in einem chinesischen Restaurant zu Mittag und beschloß, Henrik nicht mehr anzurufen, sondern ihn zu überraschen. Sie besaß einen eigenen Schlüssel, und Henrik hatte ihr gesagt, daß sie jederzeit in seine Wohnung gehen könne, er habe keine Geheimnisse, die er vor ihr verbergen müsse.
    Sie war sehr früh am Flugplatz, in einer Lokalzeitung betrachtete sie das Bild, das der Fotograf am Tag zuvor gemacht hatte. Sie riß die Seite heraus und steckte sie ein. Dann kam eine Durchsage, daß die Maschine, mit der sie fliegen sollte, einen technischen Defekt habe. Sie mußte auf eine Ersatzmaschine warten, die bereits auf dem Weg von Stockholm war.
    Sie ärgerte sich nicht, spürte aber, wie ihre
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