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Die Lebküchnerin

Die Lebküchnerin

Titel: Die Lebküchnerin
Autoren: Sybille Schrödter
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Prolog
    Das Mädchen zitterte am ganzen Körper, obwohl es seinen wärmenden Fellmantel mit klammen Fingern vor der Brust zusammenhielt.
    Sie war sehr hoch gewachsen für eine Zwölfjährige, dürr wie eine Bohnenstange, und sie besaß eine helle Haut, die in diesem Augenblick so leblos wirkte wie die einer Toten. Eine dunkle Locke blitzte vorwitzig unter ihrer Haube hervor. Aus ihren braunen Augen rannen heiße Tränen, aber sie gab keinen Klagelaut von sich. Dennoch konnte jenes stumme Leiden den Schmerz nicht verringern, der ihr das Herz zu zerreißen drohte. Im Gegenteil, es fiel ihr unendlich schwer, nicht laut aufzuschluchzen, aber damit hätte sie sich mit Sicherheit den Zorn ihrer Stiefmutter zugezogen. Nur allzu gut erinnerte sie sich daran, wie man sie vor einigen Tagen an den Haaren vom Totenbett ihres Vaters fortgezogen und sie unter Androhung von Schlägen geheißen hatte, ihre Habseligkeiten zu packen. Und zwar nur so viel, wie in eine kleine Reisekiste passte.
    Diese hölzerne Kiste stand nun neben ihr am Boden – genauso verloren wie sie selbst. Fassungslos lauschte sie den Worten, die ihre Stiefmutter mit der fremden Frau wechselte. Wenn sie das Gespräch richtig verstand, wurde darin ihr weiteres Schicksal besiegelt. Sie wollte dagegen aufbegehren. Warum tat man ihr das an? Hatte sie nicht schon genug gelitten? Warum hatte sie mit dem Tod ihres Vaters für alle Zeiten das Recht verwirkt, im Haus ihrer Kindheit zu leben? Warum zwang man sie dazu, fortan hinter diesen dicken Mauern zu leben? Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, als sie sich vorstellte, niemals mehr im eigenen Bett zu schlafen. Der Vater hatte ihr den Stoff für die schweren Vorhänge jüngst von einer seiner Handelsreisen mitgebracht. Wie oft hatten sie ihr Zuflucht vor der Schelte ihrer Stiefmutter gewährt. Ein besseres Versteck hatte es im ganzen Haus nicht gegeben, als sich schlafend zu stellen.
    Das Mädchen seufzte. Es schmerzte sie, an das wunderschöne Himmelbett zu denken. Es war so weich, und in die Bettstellen waren Blumen geschnitzt. Wie oft hatte sie sich auf ihrem Lager in eine himmlische Welt hineingeträumt und Zwiesprache mit ihrer Mutter gehalten, die sie als Engel oben in den Wolken vermutete.
    Das Mädchen warf einen sehnsüchtigen Blick zum Himmel hinauf, doch der war genauso düster wie ihre Stimmung. Schwere Regenwolken hingen bis fast auf die Erde hinab.
    Die fremde Frau sprach gerade von himmlischen Heerscharen dort droben. Wo mochten die an diesem grauen Tag wohl sein?, fragte sich das Mädchen.
    »Sagt, ehrwürdige Frau Priorin, diesen Ring braucht das Kind doch nicht, wenn es sich mit unserem Herrn Jesus Christus vermählt, oder?« Mit diesen Worten trat die Stiefmutter ganz nahe an das Mädchen heran, griff, ohne eine Antwort abzuwarten, nach dessen schmalen Händen und zog ihm wortlos einen goldenen Ring mit Rubin vom Finger.
    Die Priorin runzelte die Stirn und wollte etwas erwidern, aber da hatte die füllige Matrone das Schmuckstück bereits hurtig in ihrem ledernen Geldsack verschwinden lassen.
    Bitte nicht den Ring meiner Mutter!, wollte das verzweifelte Mädchen schreien. Doch der warnende Blick der Stiefmutter hielt sie davon ab.
    »Nun schau doch nicht so gierig, als wolle ich dir etwas nehmen, mein Kind. Es wird doch alles das Deinige bleiben, nur kannst du es nicht mehr verwalten. So werde ich Obacht geben auf das Erbe deines Vaters. Und der Wunsch deines Vaters war nun einmal, dass du dem Herrn dienen sollst. Du willst doch nicht ungehorsam sein gegenüber deinem geliebten Vater, oder?« Bei diesen Worten streckte sie die Hand nach dem Gesicht des Mädchens aus.
    Das Mädchen zuckte ängstlich zurück, doch seine Stiefmutter streichelte ihm nun mit ihren dicken Fingern über das Gesicht. Das Mädchen hatte eine Ohrfeige erwartet. Die Zwölfjährige wusste in diesem Augenblick jedoch nicht, was schlimmer war: den brennenden Schmerz auf der Wange zu fühlen oder diese Finger, die ihr grob die Wangen kneteten. Abermals erzitterte sie unter einem eisigen Schauder, denn sie allein wusste, dass ihre Stiefmutter die Priorin belog. Niemals hätte ihr Vater gewollt, dass man ihr auf diese Weise das Zuhause nahm.
    Im Gegenteil, wie oft hatte er seiner Tochter in allen Einzelheiten ausgemalt, wie er später von seinem Stuhl aus zuschauen würde, wie ihre Kinderschar durch das Haus tobte. Ja, er hatte einmal sogar schon einen Ehemann für sie ins Auge gefasst. Einen jungen Regensburger von
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