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Kennedys Hirn

Kennedys Hirn

Titel: Kennedys Hirn
Autoren: Henning Mankell
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ihr, daß sie sich im Verhältnis zu ihm ebenfalls als Erwachsene zeigte. Er hatte Fragen nach Aron gestellt, und sie hatte ihm endlich ganz ernst von der leidenschaftlichen Geschichte erzählt, die immerhin das eine Gute hatte, daß er daraus entstanden war. Sie versuchte, nicht schlecht über Aron zu reden, sie wollte seine Lügen und seine ständigen Ausflüchte, Verantwortung für das Kind zu übernehmen, nicht aufdecken. Henrik hatte aufmerksam zugehört, seine Fragen ließen erkennen, daß er sie lange vorbereitet hatte.
    Sie verbrachten zwei winderfüllte Tage in Kopenhagen und schlitterten im Schneematsch durch die Straßen, fanden aber die mechanische Hölle, und es war wie ein triumphaler Erfolg, sie hatten den Zweck ihrer Expedition erreicht. Die Hölle war im frühen achtzehnten Jahrhundert von einem unbekannten Meister hergestellt worden, oder vielleicht eher einem Verrückten, und sie war nicht größer als ein Puppentheater. Man konnte Federn aufziehen und anschließend betrachten, wie aus Blech ausgeschnittene Teufel verzweifelte Menschen fraßen, die von einer Stange im oberen Teil des Höllenkastens herabfielen. Es gab ausgeschnittene Flammen in goldfarbenem Metall und einen Oberteufel mit einem langen Schwanz, der sich rhythmisch bewegte, bis die Antriebsfedern nicht mehr genug Kraft entwickelten und alles stehenblieb. Sie redeten so lange auf einen Museumsangestellten ein, bis er die Federn aufzog, obwohl es eigentlich nicht erlaubt war, die mechanische Hölle war brüchig und sehr wertvoll. Es gab nichts Vergleichbares auf der Welt.
    Auf dieser Reise hatte Henrik beschlossen, eine eigene mechanische Hölle zu bauen. Sie hatte nicht geglaubt, daß es ihm damit ernst war. Außerdem bezweifelte sie, daß er die technischen Fähigkeiten hatte, die erforderliche Konstruktion zu bauen. Doch drei Monate spater rief er sie in sein Zimmer und führte ihr eine fast exakte Kopie dessen vor, was sie in Kopenhagen gesehen hatten. Sie war sehr erstaunt gewesen und von Bitterkeit gegen Aron erfüllt, der sich nicht darum kümmerte, was sein Sohn leisten konnte.
    Warum dachte sie jetzt daran, während sie mit den Polizisten dasaß und auf Artur wartete? Vielleicht weil sie damals eine tiefe Dankbarkeit dafür empfunden hatte, daß Henrik da war und ihrem Leben einen Sinn gab, den keine Doktorarbeit und keine archäologische Ausgrabung auch nur annähernd geben konnte. Wenn das Leben einen Sinn hatte, dann war es ein Mensch, hatte sie gedacht, nichts anderes als ein Mensch.
    Jetzt war er tot. Und sie war auch tot. Sie weinte in Schüben, sie kamen wie Regenschauer, die ihren Inhalt ausschütteten und schnell wieder verschwanden. Die Zeit hatte jede Bedeutung verloren. Wie lange sie wartete, wußte sie nicht. Kurz bevor Artur kam, dachte sie, daß Henrik ihr den äußersten Schmerz nie antun würde, wie schwer sein eigenes Leben auch sein mochte. Sie war der Garant dafür, daß er nie freiwillig aus dem Leben gehen würde.
    Was blieb dann noch ? Jemand mußte ihn getötet haben. Sie versuchte, es der Polizistin, die bei ihr wachte, zu sagen. Eine Weile später betrat Göran Vrede das Hotelzimmer. Er setzte sich schwer auf einen Stuhl ihr gegenüber und fragte, warum. Warum was ?
    »Warum glauben Sie, er sei umgebracht worden?«
    »Es gibt keine andere Erklärung.«
    »Hatte er Feinde? War etwas passiert?«
    »Ich weiß nicht. Aber warum sollte er sonst sterben? Er ist fünfundzwanzig. «
    »Wir wissen es nicht. Es gibt keine Anzeichen für Fremdeinwirkung.«
    »Er muß ermordet worden sein.«
    »Es gibt nichts, was darauf hindeutet.«
    Sie blieb hartnäckig. Irgend jemand mußte ihren Sohn getötet haben. Es war ein roher und brutaler Mord. Göran Vrede hörte zu, den Notizblock in der Hand. Aber er schrieb nichts, und das empörte sie.
    »Warum schreiben Sie nicht?« schrie sie plötzlich in ihrer Ohnmacht. »Ich sage Ihnen, was passiert sein muß!«
    Er öffnete den Block, aber er schrieb noch immer nichts.
    In diesem Augenblick betrat Artur das Zimmer. Er sah aus, als käme er gerade von einer verregneten Jagd und wäre lange über tiefe und endlose Moore gestapft. Er trug Gummistiefel und die alte Lederjacke, an die sie sich aus ihrer Kindheit erinnerte: sie roch beißend nach Tabak und Öl und anderen Dingen, die sie nie hatte bestimmen können. Sein Gesicht war bleich, das Haar zerzaust. Sie stürzte auf ihn zu und klammerte sich an ihn. Er würde ihr helfen, sich von dem Alptraum zu befreien, so wie
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