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Keine Gnade

Keine Gnade

Titel: Keine Gnade
Autoren: Daniel Annechino
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in die Gegenwart und fand die Kraft, der Versuchung zu widerstehen. Er drückte das Skalpell gegen Genevieves Brustbein und setzte den Schnitt. Dann griff er nach der Kreissäge, wie so oft in seinem Beruf, wenn er Operationen durchführte. Als er halb durch das Brustbein war, setzte er die Säge ab. Ihm war so schlecht, dass er versuchte, ins Bad zu kommen, doch er übergab sich direkt auf den Boden. Mit dieser Reaktion hatte er nicht gerechnet. Er fühlte sich wie ein Anfänger bei seiner ersten Operation am offenen Herzen. Wie viele Brust ­­körbe hatte er schon geöffnet? Mehr als er sich erinnern konnte. Wie viele Herzen hatte er schon in der Hand gehalten? Aber das hier war anders. Die Befürchtung, sie könnte verbluten, gab ihm die Kraft fortzufahren.
    Das ist viel schwieriger, als ich gedacht habe.
    Er vollendete den Schnitt durch das Brustbein, setzte sorgfältig den Rippenspreizer ein und kurbelte den Brustkorb auf. Dann öffnete Julian ihre Vene oben am Oberschenkel und schob einen Katheter ein, den er vorsichtig in Richtung Herz schob. Als er die richtige Stelle erreicht hatte, injizierte er eine Mischung aus Epinephrin und Kaliumchlorid in den Infusionsschlauch und schickte einen hochfrequenten elektrischen Impuls durch den Katheter. Nach einigen Minuten entwickelte ihr Herz eine sporadische ­Arrhythmie, die kurz darauf in Vorhofflimmern überging.
    Nun kam der knifflige Teil. Er musste jetzt genau den Bereich des Herzens finden, wo die durch die Medikamente und den Katheter verursachten falschen elektrischen Impulse herkamen. Unter normalen Umständen würden bei einem Vorhofflimmern zwei, manchmal auch drei Chirurgen die rettende Operation durchführen, doch Julian musste nun alles allein schaffen. Da er sich wegen der Langzeitkom­plikationen aber keine Sorgen zu machen brauchte, konnte er es sich leisten, ohne medizinische Einschränkungen kühn zu experimentieren. Sein Hauptziel war es, sie so lange wie möglich am Leben zu erhalten. Er entfernte den Katheter und führte stattdessen einen anderen Katheter ein, um eine Hochfrequenzablation durchzuführen. Er vergewisserte sich, dass der automatische Defibrillator in Reichweite lag.
    Â»Vergib mir, Genevieve, aber das Wohl der Allgemeinheit ist wichtiger als das Wohl des Einzelnen.«
    Das war von nun an sein Credo.

3    Als das Telefon morgens um Viertel vor vier klingelte, griff Sami völlig schlaftrunken nach dem Hörer, wobei sie fast den Radiowecker vom Nachttisch schubste.
    Â»Hallo«, flüsterte sie heiser.
    Â»Sami? Hier ist Captain Davison. Tut mir leid, so früh anzurufen, aber ich muss mit Al sprechen.«
    Sie hatte seit Monaten nicht mit Captain Davison gesprochen, aber für Small Talk war jetzt nicht die Zeit. Al schnarchte wie ein Grizzlybär im Winterschlaf, er war nicht wach geworden. Sie griff nach seiner Schulter und schüttelte ihn.
    Al stöhnte, wachte aber nicht auf. Stattdessen schnarchte er weiter.
    Sie schüttelte ihn wieder, jetzt ein wenig heftiger. »Al, aufwachen.«
    Â»Was zum Teufel ist los?«
    Sie reichte Al das Telefon und rollte sich wieder auf ihre Seite. »Es ist der Captain.«
    Er brauchte ein paar Sekunden, um sich zu sammeln, fuhr mit der Hand durch seine Haare und war sich sicher, dass der Captain ihn nicht anrief, um ihn zu einem Frühstück noch vor Tagesanbruch einzuladen.
    Â»Was gibt es zu dieser unchristlichen Zeit?«, wollte Al wissen.
    Â»Ziehen Sie sich an, und schieben Sie Ihren Hintern zum Mission Bay Park«, ordnete der Captain an.
    Â»Für ein Picknick ist es noch ein bisschen früh.«
    Â»Hören Sie mit der Klugscheißerei auf, und machen Sie, dass Sie auf den Parkplatz östlich vom Touristeninfocenter kommen. Wissen Sie, wo das ist?«
    Jetzt war Al hellwach. »Was ist denn los?«
    Â»Mord ist los.«
    Dann war da nur noch das Freizeichen. Er zog sich so schnell wie möglich im Dunkeln an, sehr darum bemüht, Sami nicht zu stören. Aber kaum war er halb angezogen, machte sie das Licht auf ihrem Nachttisch an.
    Â»Was ist los?«
    Â»Kaum Informationen.« Selbst wenn er alle schreck­lichen Einzelheiten wüsste, hätte er sie nie weitergegeben. Während der letzten zwei Jahre war er ein Meister darin geworden, Sami alles Mögliche über seine Mordermittlungen zu erzählen, ohne ihr wirklich etwas zu erzählen. Es war wie ein Ausbildungscamp
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