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Trieb

Trieb

Titel: Trieb
Autoren: Martin Krist
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Prolog
    In Gracen, einem winzigen albanischen Bergdorf, schüttelte ein Junge wütend sein kleines Radio.
Dieses blöde Ding!
Um achtzehn Uhr hatte die Hitparade auf
Top Channel
begonnen. Jetzt war es bereits kurz vor halb sieben, und noch immer klang statt der neuen Songs von Eminem, US5 oder Tokio Hotel nur ein Rauschen aus den Lautsprechern. Dabei lag Tirana, von wo der Sender sein Programm ausstrahlte, nicht einmal weit von Gracen entfernt. Mit dem Bus brauchte man gerade mal eine Stunde in die Hauptstadt.
    Der Junge hielt die Antenne so hoch wie möglich, doch obwohl er sich dazu sogar auf die Zehenspitzen stellte, gab das Radio nur ein Knistern von sich. Es war alt und kaputt. Vielleicht hätte sein Vater das Gerät reparieren können, aber der war schon lange tot.
    Der Junge trat zu seiner Mutter an den Herd. »Mama, wann kaufen wir endlich ein neues Radio? Oder einen Fernseher? Alle im Dorf haben …«
    »
Wir
haben kein Geld dafür«, unterbrach sie ihn, ohne dabei vom köchelnden Grießbrei aufzuschauen. »Das weißt du doch, Tabori.«
    »Aber du gehst arbeiten«, widersprach der Junge. Zweimal die Woche schrubbte sie die Dielen in der Kirchensakristei und wischte die Bänke vor dem Altar.
    »Das bisschen, was ich beim Putzen verdiene, deckt kaum die Miete.« Sie rührte den Grießbrei um. Fleisch gab es nur selten, und selbst für Kartoffeln reichte das Geld nur manchmal. »Und erst recht nicht die Kosten für Mickaels Medizin.«
    Tabori wollte erneut protestieren. Immerzu drehte sich alles nur um seinen älteren Bruder. Doch seine Mutter brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Mit Fernsehen vergeudest du sowieso nur deine Zeit. Du solltest lieber …« Sie wurde von einem Klopfen an der Tür unterbrochen. Schnell reichte sie Tabori den Topf mit dem Grießbrei. »Geh aufs Zimmer!«
    Der kleine Raum, den Tabori sich mit Mickael teilte, bestand aus einem Kleiderschrank, dessen eine Tür nur noch halb in den Angeln hing, und einer aufgebockten, zerkratzten und durchhängenden Platte, auf der Tabori seine Schulaufgaben erledigte. Die nicht vorhandene Tapete wurde durch alte Fotos ersetzt, die Mutter, Mickael, Tabori, seinen Cousin Ryon und Gentiana zeigten. Daneben hing ein Poster von Tokio Hotel, das Ryon vor ein paar Monaten für ihn aufgetrieben hatte.
    Das schmale Bett teilte sich Tabori mit seinem Bruder, der gerade schlief. Tabori wollte Mickael nicht wecken, also stellte er den Grießbrei auf den Nachttisch und griff nach der Gitarre, die ein Geschenk von Großvater gewesen war, wenige Monate vor dessen Tod.
    Während Tabori im Flur die Daunenjacke über den Pullover zog, hörte er aus dem Wohnzimmer Geräusche. Sie erinnerten ihn an das Grunzen der Dorfschweine.
    Draußen schlug ihm der kalte Januarwind ins Gesicht, aber es fiel ihm leichter, diesen Schmerz zu ertragen, als das Stöhnen im Haus mit anhören zu müssen. Oder in die verquollenen Augen zu sehen, die seine Mutter später mit Sicherheit wieder haben würde.
    Tabori überquerte die steinige Hauptstraße. Ein paar Abschnitte waren vor einiger Zeit von rumänischen Wanderarbeitern neu geteert worden, aber der heiße Sommer und der raue Winter hatten dem Straßenbelag bereits wieder zugesetzt. Erst vor Kurzem war der Bus, der zweimal täglich Gracen ansteuerte, in einem der Schlaglöcher stecken geblieben. Es hatte dreier Pferde bedurft, um ihn herauszuziehen.
    In einigen Häuserfenstern glomm noch verheißungsvoll bunte Weihnachtsdekoration, aber die meisten Bauernkaten wurden nur von nackten Glühbirnen erleuchtet. Der Großteil der Dorfbewohner konnte sich keinen Luxus leisten. Auch für Tabori hatte es zu Weihnachten nur eine Portion Kekse gegeben, verpackt in blaues Briefpapier, und mit viel Glück würde er zu seinem Geburtstag nächste Woche weiteres Gebäck erhalten.
    Er wählte einen schmalen Weg zwischen zwei großen, verwitterten Röhren hindurch, die vor langer Zeit einmal als Brennöfen zur Herstellung von Kalk gedient hatten. Wenn man von der alten Weberei ein Stück weiter die Straße hinunterlief, kam man zur Fabrik, die nach einem Brand nur noch eine schwarze Ruine war.
    Der Pfad führte hinauf zum Skanderberg. In einer der Höhlen, die es in dem Hang seit Jahrhunderten gab, entzündete Tabori ein Feuer. Es dauerte eine Weile, bis die Flammen endlich am klammen Holz aufstoben. Sein Vater hätte es mit Sicherheit schneller geschafft.
    Mit den Fingerspitzen strich Tabori sanft über das Holz seiner Gitarre. Das
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