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Kein Ort - Nirgends

Kein Ort - Nirgends

Titel: Kein Ort - Nirgends
Autoren: Christa Wolf
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Rechte?
    Eine Weissagung leitet ihn. Er liegt vor Konstantinopel, unfähig, zurückzuweichen. Er hat sein Alles in den Wurf gesetzt, die Brücken hinter sich verbrannt. Verstehn Sie nicht, was das bedeutet.
    Warum schweigt sie?
    Was mit der Weissagung ist, will sie wissen.
    Ich hätte sie schon noch ins Spiel gebracht. Es war demhistorischen Guiscard – der auf Korfu seinen Tod gefunden – prophezeit, er werde in Jerusalem sein Ende finden; zu spät erfährt er: Hier, wo er sich sicher dünkt, lag einst eine Stadt mit Namen Jerusalem. Grausam hat ihn die Weissagung irregeführt.
    So stirbt er mit einem Fluch auf die Götter, die mit ihm ihr Spiel hatten? Oder auf sich selbst, der denen traute anstatt nur sich? Der ihrem Spruch, frevelhaft und leichtsinnig, die eignen Ziele unterschob? Sich überhob? Sich zu gering schätzte?
    Das ist es ja, sagt Kleist. Wer soll das wissen.
    Wozu er Jahre brauchte, begreift die Frau in Minuten: Daß er an Unmöglichem sich abgearbeitet. Ein Mann, gebunden an die Gesetze der Alten so stark wie an die der Neuzeit, der seinen Untergang zu gleichen Teilen dem Verrat der Götter wie sich selbst verdankt: Einem solchen Helden hat das Drama noch keine Form geschaffen. Vor allem aber, jetzt sieht er es: Seinen ärgsten Feind und zugleich sich selbst enthüllen wollen ist ein Vorhaben, für das es keine Lösung gibt. Der Stoff ist ungeheuer, an ihm zu scheitern keine Schande.
    Er will sich der unheilbaren Seite seiner Natur entäußern.
    Ich dichte bloß, weil ich es nicht lassen kann.
    Hölderlin macht der Welt, damit sie ihn nicht zugrunde richtet, einen Vorschlag zur Güte: Der Dichter ist verrückt.
    Ihr Angebot, Günderrode? Liebt mich?
    Und das Ihre? Vernichtet mich?
    Ach Günderrode! Ganz wahr sein können, mit sich selbst. Es steht uns nicht frei.
    Oft denk ich: Wenn der erste Idealzustand, den die Naturhervorrief und den wir zerstören mußten, nie zu jenem zweiten Idealzustand führte, durch die Organisation, die wir uns selber geben?
    Wenn wir zu hoffen aufhören, kommt, was wir befürchten, bestimmt.
    Sie gehn schweigend. Die Günderrode weist den Fremden auf das Farbenspiel am westlichen Himmel hin, ein Rosarot und ein Apfelgrün, die sonst in der Natur nicht vorkommen. Es bleibt noch hell, nur die Luft wird kühler. Die Günderrode zieht ihr Tuch über der Brust zusammen. Sie ist ruhig. Um diese Tageszeit wünscht sie oft, allein und für alle tot zu sein, außer für den, den sie noch nicht kennt und den sie sich erschaffen wird. Sie zerreißt sich in drei Personen, darunter einen Mann. Liebe, wenn sie unbedingt ist, kann die drei getrennten Personen zusammenschmelzen. Die Aussicht hat der Mann neben ihr nicht. Sein Werk ist der einzige Punkt, mit sich eins zu werden; er darf es um eines Menschen willen nicht aufgeben. So ist er doppelt einsam, doppelt unfrei. Es kann nicht gut gehn mit diesem Menschen, mag er nun ein Genie sein oder nur ein Unglücklicher unter vielen, wie die Zeit sie ausspeit.
    Kleist geht eine Zeile durch den Kopf, die er der Günderrode nicht zitieren will: An eigne Kraft glaubt doch kein Weib. – In dieser Frau, denkt er, könnte ihr Geschlecht zum Glauben an sich selber kommen. Der Austausch mit ihr, die ihn als Mann nicht reizt, kommt einem sinnlichen Rausch nahe.
    Sie sagt, als habe sie das gleiche gedacht: Indem wir die Gegenwart gewahr werden, ist sie schon vorüber, das Bewußtsein des Genusses liegt immer in der Erinnerung.
    Auch ich, denkt Kleist, werde einst ein Leichnam sein in den Gedanken der Menschen? Das ist es, was sie Unsterblichkeit nennen?
    Zwischen den Zeiten, denkt sie, ist zwielichtiges Gelände, in dem verirrt man sich leicht und geht auf geheimnisvolle Weise verloren. Das schreckt mich nicht. Das Leben ist uns doch aus der Hand genommen. Ich muß nicht immer da sein. So wäre ich unverwundbar? Ohne Anlaß beginnt sie auf einmal zu lachen, erst leise, dann laut und aus vollem Hals. Kleist wird angesteckt. Sie müssen sich aneinander halten, um vor Lachen nicht umzusinken. Näher sind sie sich nie als in dieser Minute.
    Wenn die Menschen gewisse Exemplare ihrer eigenen Gattung aus Bosheit oder aus Unverstand, aus Gleichgültigkeit oder aus Angst vernichten müssen, dann fällt uns, bestimmt, vernichtet zu werden, eine unglaubliche Fähigkeit zu. Die Freiheit, die Menschen zu lieben und uns selbst nicht zu hassen.
    Begreifen, daß wir ein Entwurf sind – vielleicht, um verworfen, vielleicht, um wieder aufgegriffen zu werden. Das zu
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