Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kein Ort - Nirgends

Kein Ort - Nirgends

Titel: Kein Ort - Nirgends
Autoren: Christa Wolf
Vom Netzwerk:
paar Leute, die mit Arbeitsgerät an ihnen vorbeigehn, sehen sich nach dem Mann um, der das Fräuleinam Arm gepackt hat. Sie scheint nichts Ungebührliches dabei zu finden, Beistand nicht zu brauchen, auch den weiten Rückweg nicht zu scheun, der ihnen bevorsteht. Ich glaube, wir fragen falsch, wenn wir uns dem Schicksal gegenüberstellen, anstatt zu sehn, daß wir mit ihm eins sind: daß wir, was mit uns geschieht, insgeheim herausfordern. Verstehn Sie, Kleist? Sonst geschähe bei ähnlichen Umständen einem jeden das gleiche.
    Wäre das die Frau, vor deren Liebe man keine Angst haben müßte?
    Einmal sollte einer ihr gegenübertreten, von dem sie nichts weiß. Von dem sie nichts erfahren kann, außer sie erfährt sich selber bis auf den Grund, bis an ihre Grenzen und darüber hinaus. Und dann nichts weiter. – Sie erinnert sich, wann ihr der Gedanke zum erstenmal kam: Als Savigny damals in den Reisewagen stieg und sie ihm mit dem Kutschenschlag die Hand einklemmte; als er abreiste und sie, plötzlich gefaßt, alles voraussah, was diesem Abschied folgen würde, weil das alles in ihr beschlossen war. Sie begriff, wie manche Leute zur Sehergabe kommen: Ein starker Schmerz oder eine starke Konzentration erleuchtet die Landschaft ihres Innern. Savigny tauchte nicht darin auf, obwohl sie es sehnlich zu wünschen glaubte. An ihr hätte es gelegen, einem Verlangen, dessen Kraft und Innigkeit zu erschlaffen begann, neue Nahrung und Bindung zu gehen. Sie aber überließ sich ihrer Trägheit, fast Schläfrigkeit. Und neulich, als sie in großer Gesellschaft die Hochzeit von Gunda Brentano und Carl Savigny feierte, konnte sie sich kaum freimachen von der seltsamen Empfindung, die Braut schon einmal umarmt, dem Bräutigam schon einmal die Hand gedrückt, mit den gleichen Leuten,aus gleichem Anlaß schon einmal an dieser Tafel gesessen zu haben. – Sie brächte die Glut auf, die Wand zwischen sich und den andern einzuschmelzen. Ein Vorgefühl des Lebens, das diesen Namen verdient, ist in ihr. Einmal wird sie dem folgen müssen, besinnungslos. Daß sie daran sterben wird, weiß sie, aber auch, daß sie dieses Wissen vergessen kann, wenn es so weit ist. Daß der Tod sie überraschen muß.
    Um mich zu ergänzen, denk ich manchmal, braucht ich die ganze übrige Menschheit. Da sehn Sie den Irrsinn. Was ich sehe, Kleist, ist Mangel.
    Die Frau leidet, Kleist bezweifelt es nicht, aber die Frauen sind das leidende Geschlecht. Sie wird sich drein schicken, wenn auch, das gesteht er ihr zu, schwerer als die meisten – darin der Schwester verwandt. Doch sagt er sich: Sie ist versorgt, was immer das heißen mag; sie muß ihre Gedanken nicht an die trivialsten Erfordernisse des Alltags wenden. Daß sie keine Wahl hat, erscheint ihm als Gunst. Sie ist, als Frau, nicht unter das Gesetz gestellt, alles zu erreichen oder alles für nichts zu halten.
    Kleist zählt sich die Staaten auf, die er kennt, es ist ihm ein Zwang geworden. Daß ihre Verhältnisse seinen Bedürfnissen strikt entgegenstehn, hat er erfahren. Mit gutem Willen, angstvollem Zutraun hat er sie geprüft, widerstrebend verworfen. Die Erleichterung, als er die Hoffnung auf eine irdische Existenz, die ihm entsprechen würde, aufgab.
    Unlebbares Leben. Kein Ort, nirgends.
    Manchmal spürt er die vertrackte Drehbewegung der Erdkugel bis in sein innerstes Gebein. Einmal wird es ihn über den Rand dieser beschränkten Kugel schleudern,er ahnt schon den Zugwind. Während die Frau hier, so unwahrscheinlich es ist, doch immer noch ihren Liebhaber finden kann, ein bescheidnes Haus, in dem sie Kinder um sich versammeln und ihre Jugendgrillen vergessen mag.
    Was glauben Sie, Günderrode: Hat jeder Mensch ein unaussprechbares Geheimnis?
    Ja, sagt die Günderrode. In dieser Zeit? Ja.
    Die Antwort hat sie bei der Hand gehabt.
    Sie bleiben stehn, drehn sich einander zu. Jeder sieht den Himmel hinter dem Kopf des andern, das blasse spätnachmittagliche Blau, kleine Wolkenzüge. Sie mustern sich unverhohlen. Nackte Blicke. Preisgabe, versuchsweise. Das Lächeln, zuerst bei ihr, dann bei ihm, spöttisch. Nehmen wir es als Spiel, auch wenn es Ernst ist. Du weißt es, ich weiß es auch. Komm nicht zu nah. Bleib nicht zu fern. Verbirg dich. Enthülle dich. Vergiß, was du weißt. Behalt es. Maskierungen fallen ab, Verkrustungen, Schorf, Polituren. Die blanke Haut. Unverstellte Züge. Mein Gesicht, das wäre es. Dies das deine. Bis auf den Grund verschieden. Vom Grund her einander ähnlich. Frau.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher