Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kein Ort - Nirgends

Kein Ort - Nirgends

Titel: Kein Ort - Nirgends
Autoren: Christa Wolf
Vom Netzwerk:
Mann. Unbrauchbare Wörter. Wir, jeder gefangen in seinem Geschlecht. Die Berührung, nach der es uns so unendlich verlangt, es gibt sie nicht. Sie wurde mit uns entleibt. Wir müßten sie erfinden. In Träumen bietet sie sich uns an, entstellt, schrecklich, fratzenhaft. Die Angst im Morgengrauen, nach dem frühen Erwachen. Unkenntlich bleiben wir uns, unnahbar, nach Verkleidung süchtig. Fremde Namen, die wir uns zulegen. Die Klage in den Hals zurückgestoßen. Trauer verbietet sich, denn wo sind die Verluste?
    Ich bin nicht ich. Du bist nicht du. Wer ist wir?
    Wir sind sehr einsam. Irrsinnige Pläne, die uns auf die exzentrische Bahn werfen. In Männerkleidern dem Geliebten folgen. Ein Handwerk ausüben: Tarnung, zuerst vor uns selbst. Auch wenn man bereit ist zu sterben, tun die Verletzungen weh, welche die Menschen uns zufügen müssen; nimmt uns der Druck der eisernen Platten, die näherrücken, uns zu zerquetschen oder an den Rand zu drücken, allmählich doch den Atem. Kurzatmig, angstvoll müssen wir weitersprechen, das wissen wir doch.
    Auch, daß uns keiner hört. Auch, daß sie sich gegen uns wehren müssen: Wo kämen sie hin. Dahin, wo wir sind – wer wollte es ihnen wünschen. Da wir uns nicht wünschen können, zu sein, wo wir sind. Da wir es nicht ändern können. Da wir uns lieben, uns hassen.
    Daß die Zeit unser Verlangen hervorbringt, doch nicht, wonach uns am meisten verlangt.
    Die niedergehaltenen Leidenschaften.
    Wir taugen nicht zu dem, wonach wir uns sehnen.
    Wir müssen verstehn, daß Sehnsucht keiner Begründung bedarf.
    Die Zeit scheint eine neue Ordnung der Dinge herbeiführen zu wollen, und wir werden davon nichts als bloß den Umsturz der alten erleben.
    Zu denken, daß wir von Wesen verstanden würden, die noch nicht geboren sind.
    Um Haltung ringen. Als hätte, was wir tun oder lassen, am Ende eine Bedeutung.
    Der Strom ist jetzt linkerhand, sie gehn gegen den Ort zurück. Die Sonne steht tief, doch bleibt es warm. Ein schöner Abend, die Günderrode atmet leicht, Kleist fühlt keine Schwäche mehr.
    Bald wird er nach Hause zurückkehren, unter den blasseren Himmel, straff gespannt über die Türme des Schlosses, die Dächer der Ministerien, zwischen denen er auf schnurgeraden Straßen hin und her laufen wird, er sieht sich schon, in verschiedener Kostümierung. Manchmal, unter Unbekannten auf der Straße, nach stundenlangem Warten in einem staubigen Vorzimmer, bei Aktenarbeit, in einer gleichgültigen Unterhaltung wird ihn die böse Lust packen, laut zu schrein. Er wird die Zähne aufeinanderpressen, die Hände zu Fäusten ballen, die Regung unterdrücken und sich nach einer Minute den Schweiß von der Stirne trocknen. Kaum wird er an eine Dichterin namens Tian denken, wird seinen Vorsatz vergessen haben, sie zu lesen. Von ihrem Tod wird nur ein Gerücht zu ihm dringen, das ihn ferne und seltsam berührt, da er, an die eigne Fessel geschmiedet, einen neuen Zusammenbruch in herzzerreißenden Wendungen zu verbergen sucht, innigst und untertänigst dankend für eine Gnade, die ihn ruinieren mußte, sich entschuldigend für den fortdauernd kränklichen Zustand seines Unterleibs, der sein Gemüt angreife und ihn bei allen Geschäften, zu denen gezogen zu werden er das Glück habe, auf die sonderbarste Art ängstige. So daß er, zu seiner innigsten Betrübnis, unfähig sei, sich diesen Geschäften fernerhin zu unterziehen. Der Günderrode Worte wird er nicht kennen, die sie zu gleicher Zeit an den Geliebten schreibt: Unser Schicksal ist traurig. Ich beneide die Flüsse, die sich vereinigen. Der Tod ist besser, als so zu leben.
    Jetzt, Kleist, erzählen Sie mir von Ihrem Stück.
    Sie kennen es, denk ich.
    Nicht von dem. Von jenem, das keiner kennt, nicht einmal Sie selbst.
    Sie ist nach Wieland die erste, die den ›Guiscard‹ kennenlernen will, den Kleist zu vergessen sucht. Warum er abwehre. Warum er eine einfache Auskunft verweigere.
    Sie stellen Fragen, Günderrode!
    Sie habe gelernt, zwischen echten und falschen Empfindlichkeiten zu unterscheiden und die falschen nicht zu berücksichtigen, bei sich selbst nicht, und auch nicht bei andern.
    Seine Verschwiegenheit nenne sie falsch? – Kleist ist beinah belustigt.
    Überflüssig nenne sie die.
    Aber es ist mir unmöglich, über gewisse Dinge zu sprechen.
    Das werden wir sehn. Sie glaube nicht, daß er diese Arbeit, an der ihm so viel gelegen, grundlos habe abbrechen müssen. Auch wenn er sie kühn finde: Der Grund interessiere sie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher