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Kein Ort - Nirgends

Kein Ort - Nirgends

Titel: Kein Ort - Nirgends
Autoren: Christa Wolf
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sie: am Waldrand das Reh. Der Schreckenslaut, den sie sich ausstoßen hörte, kam wie immer zu spät, der Bolzen holte ihn ein. Das Reh, am Hals getroffen, stürzte. Die Bettine an ihrer Seite, die sie nicht aus den Augen ließ, nahmals erste das Unheil wahr. Lina! rief sie klagend. Die Günderrode wußte: Die Wunde war an ihrem Hals, sie mußte nicht nachfühlen. Der Bettine weißes Tuch färbte sich rot, daß die Günderrode staunen mußte, wie kräftig im Traum Farben sind. Es käme ihr so natürlich vor, zu verbluten. Da wuchs vor ihnen aus dem Erdboden ein niedriges Zeltdach, unter ihm gebückt ein gnomiges behaartes Wesen, das rührte in einem Topf mit einer ekelhaften, dampfenden Brühe. Und eine Hand – die einzige, die wußte, was zu tun war –, tauchte furchtlos in die Brühe, die nicht brannte, sondern linderte, und strich sie auf die Wunde an ihrem Hals. Der Zauber wirkte augenblicklich. Sie spürte die Wunde sich schließen, schwinden. Im Erwachen faßte sie nach der Stelle: zarte, unverletzte Haut. Das ist es, was ich von ihm haben kann: den Schatten eines Traums. Sie verbot sich zu weinen und vergaß den Traum und den Grund für ihre Trauer.
    Jetzt sieht sie: Es war Savignys Hand.
    Wieso aber am Hals? So ist es nicht ausgemacht. Sie kennt die Stelle unter der Brust, wo sie den Dolch ansetzen muß, ein Chirurg, den sie scherzhaft fragte, hat sie ihr mit einem Druck seines Fingers bezeichnet. Seitdem, wenn sie sich sammelt, spürt sie den Druck und ist augenblicklich ruhig. Es wird leicht sein und sicher, sie muß nur achten, daß sie die Waffe immer bei sich hat. Was man lange und oft genug denkt, verliert allen Schrecken. Gedanken nutzen sich ab wie Münzen, die von Hand zu Hand gehn, oder wie Vorstellungen, die man sich immer wieder vors innere Auge ruft. An jedem Ort kann sie, ohne zu zucken, ihren Leichnam liegen sehn, auch da unten am Fluß, auf der Landzunge unterden Weiden, auf denen ihr Blick ruht. Zu wünschen bliebe, ein Fremder möge ihn finden, der sich fest in der Hand hat und der schnell vergißt. Sie kennt sich, sie kennt die Menschen, ist darauf eingestellt, vergessen zu werden. Auffällige Gesten meidet sie, so lange es möglich ist. Sie hat das Unglück, leidenschaftlich und stolz zu sein, also verkannt zu werden. So hält sie sich zurück, an Zügeln, die ins Fleisch schneiden. Das geht ja, man lebt. Gefährlich wird es, wenn sie sich hinreißen ließe, die Zügel zu lockern, loszugehn, und wenn sie dann, in heftigstem Lauf, gegen jenen Widerstand stieße, den die andern Wirklichkeit nennen und von dem sie sich, man wird es ihr vorwerfen, nicht den rechten Begriff macht.
    Was für eine vorzügliche Einrichtung, daß die Gedanken nicht als sichtbare Schrift über unsre Stirnen laufen! Leicht würde jedes Beisammensein, selbst ein harmloses wie dieses, zum Mördertreffen. Oder wir lernten es, uns über uns selbst zu erheben, ohne Haß in die Zerrspiegel zu blicken, welche die andern uns sind. Und ohne Trieb, die Spiegel zu zerschlagen. Dazu aber, sie weiß es ja, sind wir nicht gemacht.
    Soll eine Frau so blicken?
    Die Person ist Kleist nicht geheuer. Seine märkischen Fräuleins haben diesen Blick nicht, auch die Dresdnerinnen nicht, so lieb sie ihm sein mögen; nicht zu reden von den Schweizer Mädchen – soweit es ihm erlaubt ist, von dem einen, das er kennt, auf die andern zu schließen. Und die Pariserin, die die Natur verleugnet . . .
    Ist diese Frau schön?
    Ein unsichtbarer Kreis ist um sie gezogen, den zu übertretenman sich scheut. Es verböte sich, ihr ein Kompliment zu machen. Würde, auch Abweisung gehn von ihr aus, die zu ihrer Jugend im Widerspruch stehn, wie ihre blauen Augen zu dem glänzenden schwarzen Haar. Vom Ansehn wird sie schöner, das ist wahr, in der Bewegung, im Mienenspiel. Aber steht ihm ein Urteil über Frauenschönheit zu? Wenn es stimmt, was der spöttische junge Wieland oft behauptete: daß allein die Frauen ihren Wert untereinander ausmachen und das Urteil der Männer nur herausfordern, um deren Selbstgefälligkeit zu schmeicheln – dann nimmt das Fräulein am Fenster unter den andern reizvollen jungen Frauen einen Ausnahmeplatz ein, den keine ihr streitig macht. Bettine gewiß nicht, die Schwester des berühmten Clemens Brentano, der sich zu Kleists Verdruß gleich nach der Begrüßung mit seiner jungen Frau, der Sophie Mereau, und mit einem andern jungen Paar, den Esenbecks, an ein kleines Tischchen zurückgezogen hat. Eine Marotte, die Bettine
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