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Kein Ort - Nirgends

Kein Ort - Nirgends

Titel: Kein Ort - Nirgends
Autoren: Christa Wolf
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heftig zu mißbilligen scheint; sie, ein Kind beinah noch, ungebärdig und unberechenbar, wie der Klatsch es ihr nachsagt, hält sich auf dem Sopha bei den beiden jungen Fräulein Servière, doch ihre Blicke verraten sie: Sie möchte am Fenster sein, bei der Freundin, aber sie traut sich nicht, deren Selbstvergessenheit zu durchbrechen.
    Das Fräulein, dessen Namen Kleist übrigens nach der flüchtigen Vorstellung durch Wedekind wieder vergessen hat, soll nicht in den glücklichsten Verhältnissen leben, Kleist erinnert sich der unverheirateten Töchter mittelloser märkischer Adelsfamilien, ihres hilflosen Aufputzes, wenn sie in Gesellschaft gehn, ihrer huschenden hungrigen Augen, ihrer früh schon scharfen Züge. –Ulrike, die Schwester. Unwillkommener Einfall. Ulrike, das ist etwas anderes. Wieso? fragt die zweite Stimme in ihm, die er unterdrückt, wie er es eisern geübt hat. Er hat seine Lektion gefressen. So lernt man nur, wenn es ums Leben geht, in Todesangst. In der Gewalt von Mächten, die keinen Zweifel lassen, daß sie uns vernichten können, weil in uns selber etwas, das wir nicht kennen wollen, ihnen entgegenkommt. Dieser Zusammenbruch im November. Der schauerliche Winter. Diese dröhnenden, niemals abreißenden Monologe in seinem armen Kopf. Er weiß es ja, was seine Rettung wäre: die Stimme in sich knebeln, die da reizt und höhnt und weitertreibt, auf die wunden Punkte hin. Und wenn er sie zum Schweigen brächte? Eine andre Art von Tod. Woher nur die Selbstgewißheit, daß es seine Schuldigkeit ist, jenen Mächten, die mit allen Wassern, auch mit Blut, gewaschen sind, ihren Namen zu entreißen? Und woher, zu gleicher Zeit, sein Ohnmachtsgefühl und der durchdringende Zweifel an seiner Bestimmung? – Ungleicher Kampf.
    Kleist gibt einen Ton von sich, vor dem man schaudern müßte, könnte man ihn für eine Art von Lachen halten. Jemand berührt ihn am Arm. Wedekind, der Arzt, in Ausübung seines Amtes.
    Darf man erfahren, was Sie uns entrückt?
    Er ist nicht Herr dessen, was in ihm denkt. Er muß sich Zwang antun, und für geheilt wird er gelten, wenn er die Kunst beherrscht. Wie aber soll eine Heilung dessen stattfinden, der das Gesetz verrückt, ehe er sich ihm unterwirft? Bis in den Staub unterwirft: dem verrückten, dem ungültigen Gesetz.
    Und kein Richter. Kein Richter.
    Kleist, in Bedrängnis, schüttelt heftig den Kopf.
    Kleist! hört er den Doktor sagen.
    Nichts nichts. Es ist nichts. Ich mußte denken, daß ich dies Jahr noch siebenundzwanzig werde.
    Gewiß, sagt Wedekind. Und hätte das eine Bedeutung? Vortrefflich gefragt. Die Antwort ist: Nein.
    Mörderische Wohltat: Meinen, was man sagt, und von der eignen Meinung zerrissen werden. Und die Freunde immer, die einem am wenigsten glauben, wenn man der Wahrheit am nächsten kommt. Wie vor langer Zeit, im vorigen Herbst, Pfuel in Paris, der das Quartier mit ihm teilte, nicht aber seine Verzweiflung. Pfuel, ich bin gescheitert! Es war die Wahrheit, weiß Gott, aber der Freund, der ihn am besten kannte; der ihn begleitet hatte, man könnte auch sagen: ihm gefolgt war; der seinen hoffnungslosen Kampf um den verfluchten ›Guiscard‹ mit angesehen: dieser Freund bestritt ihm die Folgerung aus dieser Wahrheit und verweigerte ihm die Wohltat, die Erde mit ihm gemeinsam für immer zu verlassen. Er, Pfuel, sei noch nicht so weit, sich ins Jenseits zu befördern, werde es den Freund aber beizeiten wissen lassen . . .
    Herr Hofrat, fragt Kleist, Sie kennen den Hamlet?
    Gewiß, sagt der – es ist sein Lieblingswort. Im Original und in der Schlegelschen Übersetzung.
    Gebildeter Mann.
    Soeben, sagt Kleist, sei ihm eingefallen: Der Streit, der ihn damals, in Paris, mit seinem Freunde Pfuel entzweite – er wisse doch? Wedekind nickt –, dieser Streit sei um den Monolog gegangen. ›Denn wer ertrüg der Zeiten Spott und Geißel . . .‹
    ›. . . des Mächtigen Druck, der Stolzen Mißhandlungen,. . .‹ Der Hofrat, in der Tat, ist im Bilde. Doch kann er nicht umhin, sein Befremden zu äußern, daß erwachsene gesittete Menschen, Freunde, aufs Blut sich streiten können um ein paar Verse. Hieße das nicht, den Respekt vor der Literatur übertreiben? Ja: Sei es nicht überhaupt unstatthaft, jene Wand zu durchbrechen, die zwischen die Phantasien der Literaten und die Realitäten der Welt gesetzt ist?
    So auch Pfuel. Das war der Bruch.
    Ihr Hang zum Absoluten immer, Kleist . . . Ihr Shakespeare kann der lebenslustigste Mensch gewesen sein, meinen Sie
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