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Kein Ort - Nirgends

Kein Ort - Nirgends

Titel: Kein Ort - Nirgends
Autoren: Christa Wolf
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sie seien merkwürdige Leute: Ihre Augen sprächen eine andre Sprache als ihre Münder. Ihr Bruder nannte sie vorlaut und zog sie am Haar. Später sagte die Günderrode leise zur Bettine, sie wollten doch einmal darüber nachdenken, was es bedeute, daß die ernstesten, schmerzlichsten Dinge in einer Maskerade unter die Leute kämen; ob nicht eine schwere Krankheit des Gemeinwesens sich hinter so viel lächelnden Mündern verstecke.
    Die Bettine verstand sie gleich. Sie bat nur um Nachsicht für den Bruder, der im Innersten gut sei, und unglücklich.
    Aber ich trage ihm doch nichts nach! Sogar die Bettine will es nicht glauben. Mir ist es selbst oft merkwürdig, daß ich nicht hassen kann, daß ich Beleidigungen, die man mir antut, vergesse, niemals aber ein Unrecht, dasich jemandem zugefügt habe. Warum zwingen sie mich, jener unglückseligen Stunde wieder zu gedenken.
    Über einen Punkt ist sie mit sich scharf ins Gericht gegangen: Sie hat ihm keinen Vorwand, geschweige ein Recht gegeben zu dem Versuch, sie zu überwältigen. Sie weiß, die Frankfurter Gesellschaft nennt sie kokett: gewöhnliche Eifersucht unbegehrter Bürgerstöchter, gewiß, aber es trifft sie doch. Zu gut kennt sie die Gründe, die in einer Frau ein unbewußtes Entgegenkommen dem Mann gegenüber erzeugen können: Selbstverlorenheit, Angst vor schmählicher Einsamkeit. Der Mann, von seiner Eigenliebe getrieben, sich für unwiderstehlich zu halten, weiß noch so versteckte Winke als Aufforderung auszulegen. Selbstmißtrauen ist angebracht, um so mehr, da sie sich unberechneter und unbegrenzter Hingabe für fähig hält. Im Falle des Clemens aber ist sie sicher: Er hat sie verkannt. Sie muß es ihm sagen. Er staune, sagt er, wie sie so von einem festen Bewußtsein des eignen Wertes durchdrungen sei; wie sie es sich herausnehme, in einem für ihr Geschlecht ungewöhnlichen Maße gerecht zu sein. Sie sei hochmütig, ob sie das wisse.
    Das hört die Günderrode nicht zum erstenmal, es hat keinen Sinn, sich dagegen zu wehren. Ich kenne meine Schwächen, sagt sie. Sie liegen nicht da, wo Sie sie suchen.
    Daß wir nicht darauf rechnen können, gekannt zu werden.
    Diese Frau ist unbeugsam; herrisch zu sein, hat sie nicht nötig. Sie weckt Kleist seltsame Erinnerungen. Jetzt, da sie versöhnlich lacht, den Brentano, als habe sie ihm etwas abzubitten, leise an der Schulter berührt,da die kleine verschnörkelte Uhr auf dem Kaminsims einen dünnen Schlag tut, den keiner hört außer ihm – eben jetzt erinnert er sich der losen Haarnadeln seiner Wilhelmine. Er sieht sich und sie leibhaftig in der Sommerlaube hinter dem Zengeschen Haus in Frankfurt an der Oder, durch das dichte Geißblatt vor Blicken geschützt, das Buch, Voßens ›Luise‹, auf dem kleinen weißen Tischchen zwischen sich. Wilhelmine, den Kopf geneigt, weich gestimmt, erlaubt ihm, ihr Haar zu lösen, dessen Beschaffenheit seine Fingerspitzen nicht vergessen haben; wie er noch weiß und immer wissen wird, was er empfand: Verlegenheit und Schuld. Jetzt rührt es ihn, dieses Bild; warum hat es ihn so peinlich kühl gelassen, als es keine stumme ferne Szene, sondern eine wirkliche Liebesstunde gewesen: Er, der Liebende, der, weiß Gott, nicht zu betrachten, sondern zu handeln aufgefordert war, und Wilhelmine, das arme Mädchen, kein Phantasiegebilde nach der Miniatur – die er ihr ja übrigens, wie es sich gehört, wieder zugestellt hat –, sondern die nahe, zärtliche Braut. Das feine Arom von Enttäuschung, das den Vorgang durchdringt.
    Ach diese angeborene Unart, immer an Orten zu sein, wo ich nicht lebe, oder in einer Zeit, die vergangen oder noch nicht gekommen ist.
    Da, kurz ehe das Bild auf seinen Gedankenbefehl hin verblaßt, fällt ihm noch ein, was er nicht wissen will: Damals war es, daß er zum ersten und auch zum einzigen Mal von seinem Traum gesprochen hat. Die Mitteilung seiner innersten Geheimnisse ist ihm Bedürfnis, er hat, unter welchen Anstrengungen!, gewaltige Wälle dagegen in sich errichten müssen. Seine Sprachhemmung, denkt er manchmal, die ihn in Gesellschaft überfällt,sei ein Mittel, mit dem die Natur ihm zu Hilfe kommen will: Das wäre, wie er sich die Natur jetzt vorstellt. An jenem Nachmittag aber, von einer Fühllosigkeit niedergedrückt, die er nicht zugeben und doch erklären wollte, durchbrach er das Gelübde und erzählte der Braut den Traum, der ihn heimsuchte, seit er den Abschied vom Militär genommen, und aus dem er jedesmal in Tränen erwachte.
    Immer
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