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Kein Ort - Nirgends

Kein Ort - Nirgends

Titel: Kein Ort - Nirgends
Autoren: Christa Wolf
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wunderbare Geschick seiner Empfindungen; denn er glaube, in ihren Gedichten Anklänge an seine eigene Empfindung herauszuspüren.
    Nur ruhig. Daß ich mich lange noch nicht dazu erzogen habe, auf alles gefaßt zu sein.
    Clemens, sagt die Günderrode, einem Mann hätten Sie das nicht gesagt. Warum wollen Sie mir nicht zugestehn, daß ich in der Poesie wie in einem Spiegel mich zu sammeln, mich selber zu sehen, durch mich hindurch und über mich hinaus zu gehn suche. Unsern Wert im Urteil der andern, der Nachwelt gar, haben wir nichtin der Hand, und ich kümmere mich nicht darum. Aber alles, was wir aussprechen, muß wahr sein, weil wir es empfinden: Da haben Sie mein poetisches Bekenntnis. Schon gut, sagt sie zu sich selbst, nur nicht zu hoch hinaus, nur nicht zu geschraubt und feierlich und selbstgerecht. Ich kann beides verfehlen, Leben und Schreiben, doch habe ich keine Wahl. Und auch die Freundschaft versagt mir ihre glücklichen Täuschungen.
    Ja! sagt Clemens unerwartet bitter, als habe er mitgehört, so sind Sie. Immer zurückhaltend, immer beherrscht. Immer streng mit sich und andern. Immer mißtrauisch. Du liebst mich nicht, Karoline, und hast mich nie geliebt.
    Waren sie nicht übereingekommen, über diesen Punkt Stillschweigen zu bewahren? Es ist genug, übergenug, sie ist sehr müde. Was redet er noch. Meinen besten, meinen einzig wahren Freund nennt er sich. Wüßte er, daß ich jetzt nichts empfinden kann als die Furcht, innerlich abzusterben, als Entsetzen vor der Öde, die sich in mir ausbreiten wird, wenn die Jugend mich verläßt. Mein Freund, meine Freunde! Nur zu gut verstehe ich ihre Blicke. Unheimlich bin ich ihnen, doch können sie nicht sagen, warum. Ich weiß es: Ich bin unter ihnen nicht heimisch. Wo ich zu Hause bin, gibt es die Liebe nur um den Preis des Todes. Und ich staune, daß diese offenbare Wahrheit niemand außer mir zu kennen scheint, und daß ich sie, wie Diebsgut, in den Zeilen meiner Gedichte verstecken muß. Wer den Mut hätte, die wörtlich zu nehmen, sie mit natürlicher Stimme zu sprechen, wie eine andre Bekanntmachung auch. Sie würden das Fürchten lernen.
    Auf einmal sieht sie, wie es ihr oft geschieht, abgelöstvon sich und allen, das Muster, das die Beziehungen der Menschen in diesem Raum abgeben würden, als grafische Zeichnung auf einem riesigen weißen Papier, merkwürdiges Gewirr vielfältig verbundener, unterschiedlich starker, auch plötzlich unterbrochener Linien. Eigenartig schöne Darstellung, die sie kaum betrifft. Sie sieht den Punkt, den alle Linien meiden, um den ein freier Flecken sich gebildet hat: Kleist. Der niemanden kennt als seinen Arzt und der sich an keinen wendet als an ihn. Es rührt sie, wie er seine Füße hinter die Stuhlbeine klemmt, wie er die Teetasse, die längst leer ist, weiter in der Hand hält. Fordert die Höflichkeit, ihn ins Gespräch zu ziehn? Gebietet sie eher, ihm seine Ruhe zu lassen, auf die er wohl Wert legt? Seinen Blick, dem die Günderrode schon einige Male begegnet ist, weiß sie sich nicht zu deuten.
    Auch einer, der sich zu ernst nimmt.
    Kleist denkt: Der Brentano scheint Rechte auf sie zu haben. Wie Wedekind auf mich.
    Unbestritten, dem schuldet er Dank. Wedekind hat ihn aufgenommen, wie man einen zum Sterben Kranken aufnehmen soll, rückhaltlos und ohne Fragen zu stellen. Daß er ihn gerettet hat – wohl möglich; aber wo steht geschrieben, der Gerettete habe seinem Retter zu folgen, wohin der ihn zieht?
    Kleist kennt kein peinigenderes Gefühl als die Scham. Als wüßte er nicht, was ihn an Wedekind kettet. Eines Kranken sich anzunehmen – dazu mochte ein Arzt wohl verpflichtet sein; die Art der Rettung ist es, die Kleist weder sich noch ihm verzeiht. Mag es der Gipfel der Undankbarkeit sein, dem Arzt insgeheim vorzuwerfen, daß er die Starre seines Patienten zu lösen wußte, indemer mit Erfolg das einzige Mittel gegen sie anwandte: ihn zum Reden zu bringen; den Mann, der sich für vernichtet hielt und hartnäckig auf seiner Stummheit bestand, mit teilnehmenden Fragen allmählich herauszulocken. Kleist wird nie vergessen, wie wohltuend und zugleich entwürdigend es war, auf behutsame Anstöße schließlich doch zu erwidern; wie er danach verlangte und es zugleich verabscheute. Denn er bemerkte wohl, wie der Hofrat ihm seine eignen Sätze, mit denen er fürchterlich genau seinen Zustand beschrieb, zu einem Seil knüpfte, an dem er ihn Stück um Stück aus der Gefahr zog. Ein Bild, das man wörtlich nehmen muß.
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