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Das elektronische Glück

Titel: Das elektronische Glück
Autoren: dieverse Autoren
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Gennadi Gor

    Der elektronische Melmoth

    Über all das können sich die
Menschen, die von den Gesetzen
der Zeit, des Ortes und der Di
stanz gefesselt sind, nur schwer
eine Vorstellung machen.
Honoré de Balzac

    1

    Das Klingeln des Telefons schreckt mich aus dem Schlaf.
    »Wer ist da?« rufe ich ärgerlich in die Muschel.
     Eine zärtliche Frauenstimme fragt: »Erkennst du mich denn nicht?«
     »Nein.«
     »Aber ich habe dich sofort erkannt, obwohl ich deine Stimme seit dem vorletzten Jahr nicht mehr gehört habe.«
     »Sie können meine Stimme im vorletzten Jahr gar nicht gehört haben.«
     »Warum nicht, mein Lieber?«
     Ich schweige.
     »Warum nicht, mein Lieber?« wiederholt sie.
     »Weil ich damals noch gar nicht existiert habe.«
     »Du scherzt wohl? Bist du etwa noch keine zwei Jahre alt? Erklär mir das! Und erkläre mir außerdem, warum du mich
    »Für Erklärungen ist die Zeit noch nicht gekommen.«
     Meine Worte klingen trocken, wenig überzeugend, ja herzlos; doch was soll ich tun? Am besten den Hörer auflegen, und ich tue es.
     Das Mädchen hält mich offensichtlich für jemand anders. Sie hat meine Stimme im vorletzten Jahr überhaupt nicht hören können. Ich bin vor genau acht Monaten auf diese Welt gekommen. Wer bin ich? Niemand weiß es. Alle denken, ich sei Nikolai Larionow, der Mann mit dem merkwürdigen Gesichtsausdruck. Niemandem ist in den Sinn gekommen, daß ich überhaupt kein Mensch bin und daß unter dem Namen Nikolai Larionow ein Wesen existiert, das keinen einzigen Verwandten auf der Erde hat, weder unter den Lebenden noch unter den Toten.
     Familie! Wenn ich dieses Wort höre, werde ich geradezu elektrisiert. Jeder, der hier lebt, hat entweder Eltern und Großeltern oder sonst irgendwelche Verwandte unter den Zeitgenossen, jeder hat irgend etwas geerbt und setzt irgend etwas fort. Unter den Milliarden Menschen, die die Erde bevölkern, bin ich allein frei von jeglicher Erdentradition.
     Frühmorgens erwache ich in meinem Hotelzimmer, dann liege ich da und denke nach. Worüber? Immer über das gleiche. Ich hänge meinen Erinnerungen nach. Manchmal möchte ich alles vergessen und mit dem Gefühl aufwachen, als sei ich gerade geboren. Es ist beinahe, als beneidete ich Fuatu-Muatu, das künstliche Geschöpf, das im Laboratorium des großen Physiologen und Kybernetikers Eron des Jüngeren konstruiert worden ist.
     Fuatu-Muatu lebt mitten unter den Menschen. Er lebt ohne Vergangenheit. Er besitzt nichts, woran er sich erinnern könnte. Er hat zwar einen Namen, aber weder Jugend noch Kindheit. Er wird untersucht. Schließlich ist er ja auch für alle möglichen Untersuchungen und Beobachtungen angefertigt worden. Er lebt wie im Glaskasten.
     Nein, ich bin nicht Fuatu-Muatu! Ich besitze genügend Erinnerungen. In meinem Gedächtnis sind Tatsachen gespeichert, die mehr als zweihundert Jahre zurückliegen. Zum Beispiel eine Begegnung mit Immanuel Kant in Königsberg, außerdem ein Aufenthalt in dem Sankt Petersburg des XVIII. Jahrhunderts. Niemand weiß, daß ich so alt bin.
     Das Schicksal hat mich, um mich einmal in der dunklen Sprache der Alten auszudrücken, in sonderbare Umstände versetzt. Ich lebe unter den Menschen, ohne zu ihnen zu gehören. Im XVIII. Jahrhundert war das weit einfacher. Ich konnte mich als Graf Cagliostro, den angeblichen Magier und zweifelhaften Zauberer, und schließlich auch als den Teufel selbst ausgeben. Jetzt muß ich mich verstecken und schweigen. Ich schiebe Tag und Stunde meines Geständnisses hinaus, da ich in die Redaktion einer großen Tageszeitung oder ins Fernsehstudio gehen und sagen werde: »Ich bin ein anderer. Zu einem Wesen aus einer anderen Welt paßt wohl kaum der irdische Name Nikolai. Raurbef! So hieß ich dort, jenseits eures Sonnensystems.«
     Ich schiebe diesen Tag hinaus, denn ich sehe bereits, was dem Geständnis folgen wird. Ich liebe keine Sensationen. Deshalb lebe ich unter dem Namen Nikolai Larionow. Im XVIII. Jahrhundert, als ich zum erstenmal die Erde besuchte, mußte ich das Zeichen verbergen, das mich unverkennbar von den Menschen unterschied: meinen Mund. Eine erfolgreiche plastische Operation hat diesen Unterschied jetzt beseitigt. Und an den merkwürdigen Gesichtsausdruck kann man sich gewöhnen.
     Niemand von den Studenten, die mit mir an der Leningrader Universität studieren, vermutet, daß ich in meinem Bewußtsein an Raum und Zeit so viel mit mir herumtrage, wie es die innere Welt des Menschen gar nicht zu
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