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Kein Ort - Nirgends

Kein Ort - Nirgends

Titel: Kein Ort - Nirgends
Autoren: Christa Wolf
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Tonfolgen an, die in keinem Notenblatt stehn. Vom Blatt spielen könne sie nicht, hört er sie sagen, und sie lacht, daß er in Zweifel kommt: Soll ihr Hintersinn ihn reizen, oder soll er ihn gelten lassen, da er ihrem Wesen zu entsprechen scheint. Zugegeben, ihm sind Frauen lieber, die im Rahmen bleiben, wie diese Gunda, diese Lisette, Savignys und Esenbecks Frauen, die sich auf die Couchette unter das große Ölgemälde gesetzt haben, das durch sorgfältigste Behandlung aller Schattierungen von Grün einer einfachen Landschaft unglaubliche Gliederung, Tiefe und Heiterkeit zu geben weiß. Putzige Idee: Ein zweiter Maler, falls er anwesend wäre, könnte sich hinstellen und aus diesem neuen Motiv – dem Bild des ersten, der Couchette und den sehr verschiedenen jungen Frauen darauf – ein weiteres Gemälde anfertigen, geeignet, über der sanft geschwungenen Kommode an der jenseitigen Schmalseite des Raumes zu hängen und wieder eine Gruppe zu bilden, die ihrerseits ein malenswertes Sujet hergäbe. Dies ginge so weiter, und es brächte doch auch einen gewissen Fortschritt in die Malerei.
    Wedekind will wissen, ob er ihm zuviel versprochen hat.
    Was meint er? Die Landschaft? Die Leute?
    Den Rhein, sagt Kleist vorsichtig, habe ich ja gekannt.Gewiß: als Soldat. Das ist etwas andres. Niemand kennt eine Gegend, die er nur in Montur durchstreift hat.
    Da muß Kleist ihm recht geben. Er hat eine Scheu, dem Mainzer von der Zeit zu sprechen, da er als fünfzehnjähriger Fähnrich des Königs von Preußen seine Stadt belagert hat. Elf Jahre ist es her und war in einem andern Leben. Die Erinnerung daran wäre ihm ganz geschwunden, hätte er sie nicht durch Worte befestigt, mit deren Hilfe er sich nun, sooft er will, jenes Erlebnis heraufrufen kann: Wie er gegen den Abendwind und gegen den Rhein hinaufging und die Wellen der Luft und des Wassers ihn zugleich umtönten, daß er ein schmelzendes Adagio hörte, mit allen melodischen Wendungen und der ganzen begleitenden Harmonie.
    So hat er es – getreu, will er hoffen – der Wilhelmine von Zenge viel später in einem Brief beschrieben, und er war sich bewußt, daß die Verführung der Worte ihn fortriß, weit weniger das Bedürfnis, sich einem bestimmten Menschen mitzuteilen, denn bedenkenlos braucht er ja die gleichen Wendungen in Briefen an verschiedenste Personen, so daß er einer jeden, das fühlt er wohl, die letzte Vertraulichkeit schuldig bleibt. Selbst dann, wenn er der Braut ihren Mangel an Liebe vorwarf, richtete er alles: die Klagen, die Anklagen, jeden Federstrich an sich. Da er es nicht ändern konnte, hätte sie es dulden müssen, auch wenn das zuviel verlangt war. Was die Frankfurter Gesellschaft ihm nachredet, kann er sich denken, bis in die einzelne Wendung hinein. Die Braut hinhalten, dann sitzenlassen. Warum trifft es ihn. Warum dieser Horror, sich ihrem Urteil zu stellen? Warum, da die Entfernung sich nicht bewährt hat, immer noch die Versuchung: lieber sterben, als das.
    Ach: Weil ihrem Vorwurf sein Selbstvorwurf begegnet. Unmoral! Die wissen nicht, was das ist. Er weiß es. Dem Leben schuldig bleiben, was es fordert, den Lebenden, was sie fordern müssen; wahres Leben nur fühlen, indem man schreibt . . . Dieses schlimme halbe Jahr in Wedekinds Haus – in einem geheimen Sinn war es ihm eine unbeschreibliche Erholung: Sein Zustand verbot ihm, an Schreiben auch nur zu denken. In Todesnähe fällt dieser Zwang weg. Man lebt, um zu leben. Wie das ausdrücken.
    Man sollte an anderes denken.
    Hofrat Wedekind weiß: Wenn sein Patient so in sich selbst versinkt, ist es Zeit, ihn abzulenken. Er will doch etwas über die Gesellschaft hören.
    Ach die. Nett eigentlich, nicht? Recht nett. Irritabel sei ihm nur: Er wüßte, falls es dazu kommen sollte, jene Frau da drüben nicht anzureden.
    Wie bitte? Nur kein Befremden zeigen, Wedekind wird sich hüten. Es handelt sich um die Günderrode, die den Kleist zu beschäftigen scheint. Dem Manne kann geholfen werden. Da sie – die sich übrigens soeben, wenn auch unter anderm Namen, als Dichterin hervorgetan hat – unverheiratet und adlig ist, wäre doch wohl Fräulein, notfalls Demoiselle die rechte Weise, sie anzusprechen.
    Trotzdem. Er käme in Verlegenheit, schwer zu sagen, warum. Fräulein kommt ihm unpassend vor. Er kann eine Sache nicht abtun, für die er das Wort nicht findet. Die Bettine natürlich ruft, so oft es tunlich ist, Lina zu ihr hinüber, die aufmerksam, doch ohne das rechte Entgegenkommen den Clemens
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