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Kein Ort - Nirgends

Kein Ort - Nirgends

Titel: Kein Ort - Nirgends
Autoren: Christa Wolf
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nicht?
    Kleist durchfährt der Gedanke, der Arzt halte ihn für einen Komödianten, der mit Varianten spielt, darunter der tragischen. Das, wenn es zuträfe, will er nicht wissen. Er ist abhängig vom Urteil der Welt und kann es nicht ändern.
    Andre wollen ein unblutiges Denken kennen. Harmonie, Mäßigung, Milde. Kleist, so übermäßig er sich anstrengt, dringt in das innere Leben der Wörter nicht ein. Von Sehnsucht verzehrt, bewege ich mich in ihrem Abglanz.
    Druckreif, sagt er zu Wedekind, der wartet. Druckreife Sätze, Herr Hofrat, es ist ein Laster. Ein jeder fein scharf gemacht als Guillotine für seinen Vorgänger.
    Kleist, sagt Wedekind, wenn Sie mir doch glauben wollten: Es ist nicht gut, daß der Mensch zu tief in sich hineinblickt.
    Dank für die gute Absicht. Wenn ich derart heruntergekommen wäre, den Trost zu brauchen, das milde Urteil anzunehmen. Jetzt höllisch achtgeben, daß ich meinen Kopf nicht zwischen den Händen presse, vor allen diesenLeuten. Welch schöner Saal. Was für gefällige Menschen. Wie sie eigentümliche Figuren bilden, nach Regeln, die ich niemals lernen oder begreifen werde. Mein Gott.
    Herr von Kleist.
    Mein Fräulein.
    Was hat ihr die Wangen gefärbt? Ah, allerdings: Neue Gäste, die sie mit ihm bekannt machen will. Nun denn: Ein Herr von Savigny aus Marburg, Rechtswissenschaftler, und seine Frau Gunda, geborene Brentano. Die Familie scheint fruchtbar zu sein. Der Mann, Savigny, kaum älter als er, doch, wie es scheint, seiner selbst in einer Weise gewiß, die ihm unerreichbar bleiben muß. Wie er die Hand des Fräuleins hält, wie er sie anzublikken, anzureden weiß, den Ton zwischen Begrüßung, Frage, Bitte hält: Günderrödchen.
    Da hat er ihren Namen. Nie gehört. Ohne ihn weiter zu beachten, geht sie mit den beiden Neuankömmlingen, bei denen sie sich einhakt, zu den andern davon. Der Spalt des Vorhangs schließt sich, der sich für einen Augenblick aufgetan hatte, als wolle er ihn einlassen in ihre Welt. Jenes Fräulein Günderrode hat sich ihm nur genähert, um sich wieder zu entfernen. Ungerecht ist es, seine Enttäuschung auf sie zu übertragen. Nun gut, so will er ungerecht sein.
    Das Licht! sagt jemand. Karoline, Sie müssen es sehn! Clemens. Wie ich ihn kenne. Daß er mich in Savignys Nähe nicht dulden will. Daß er mich, als sei ich sein Eigentum, zum Fenster zieht, mir ein Wort über die Beleuchtung abringt, die, das kenne ich ja, um diese Stunde allerdings unvergleichlich ist, wenn die Sonne in einem bestimmten Winkel zur Landschaft und zumWasserspiegel steht. Als brauchte irgendeine Erscheinung der Natur unser Lob, unsre Aufmerksamkeit, ja, auch nur unsre Anwesenheit.
    Sie sind streng mit mir, Karoline.
    Verletzte Eigenliebe, immer dasselbe. Savigny, als Clemens mich wegzog, hat mir das Zeichen mit dem Finger gemacht. Er ist gekommen. Weiß, daß ich warte, und verläßt sich darauf, daß ich es verbergen kann. Er begreift, daß ich treu bin, wenn ich liebe, und selbstlos; und er nützt es aus, und ich muß ihn dafür um so mehr lieben. Auch das hat er eingerechnet. Das geht immer so weiter.
    Savignys Eintritt hat der Günderrode eine Minute freudiger Selbstvergessenheit verschafft, schnelleren Herzschlag, unwillkürliche Bewegungen, die sie nicht regieren kann, wo sie sonst jeden Impuls, jede Aufwallung zu beherrschen und zu unterdrücken versteht, solange sie von sich selbst weiß. Immer die Ältere, die Stütze der einsamen, kopflosen, etwas törichten Mutter, Erzieherin der jüngeren Schwestern; immer vernünftig, immer einsichtig, in den Gegensatz zwischen eine hochfliegende Natur und die beengtesten Verhältnisse gespannt. Die ersten Nächte im Stift, neunzehnjährig, in dem kleinen Zimmer, auf dem schmalen harten Bett, bei offenen Fenstern, durch die, als die letzten Vögel verstummt waren, eine Stille hereindrang, die immer dichter, drohender und endgültiger wurde und vor dem Morgen das ganze Weltall auszufüllen und zu ersticken schien – sie spricht nie davon, sie vergißt es nicht. Bettine, so gut sie ihr ist – nie wird auch nur eine Ahnung sie streifen, welchen Schmerz, welche Entsagung die Freundin fest in sich verschließt.
    Der Clemens hört sich gerne reden.
    Kleist sieht zu.
    Die Gruppe, aus der jenes Fräulein Günderrode sich gelöst hat, fällt auseinander, als habe sie keinen Zusammenhalt mehr, und ihre Glieder schließen sich andern Gruppen an. Zwei, drei Herren versammeln sich um Bettine am Klavichord. Sie schlägt eigenwillige
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