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Kein Ort - Nirgends

Kein Ort - Nirgends

Titel: Kein Ort - Nirgends
Autoren: Christa Wolf
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sich. Das Gelb des Löwenzahns im Grün, Farben, vor die man die Maler führen müßte, um sie zu lehren, was Wörter wie gelb und grün eigentlich meinen. Eine Wiese, zu beispielhaft, als daß man sie noch Wiese nennen dürfte. Rechterhand das Silberflimmern der Uferweiden, auf dem die Reflexe des Wassers spielen. Etwas in uns wehrt sich gegen die Vollkommenheit der Natur, wenn sie unsrer eigenen Zerrissenheit entgegentritt.
    Die Günderrode muß wieder ihre Augen abschirmen. Kleist ginge jetzt ungern allein. Dann wieder ist es ihm nicht recht, daß die Frau eine Empfindung ausdrückt, die er kennt. Nichts könnte dichter sein und schöner und wirklicher, sagt sie, als diese Landschaft, die ihr oft wie die Ausweitung ihrer selbst vorkomme. Und doch könne sie sich ihr zwischen zwei Lidschlägen zur bemalten Leinwand verändern, über ein Gerüst gespannt, zu keinem andern Zweck als dem der Verhöhnung. Und sie fürchte, wünsche aber auch, die Leinwand werde reißen – im Schlaf, wenn sie hochfahre, höre sie manchmal das Geräusch; und was wir dann zu sehn kriegten, Kleist, blickten wir durch die Risse in den Abgrund hinter der Schönheit: das würde uns stumm machen.
    Die ungesunde Lust, auf die Hebel und Stangen hinter den Kulissen zu zeigen – bei einer Frau hat Kleist sie noch nicht angetroffen.
    Gräßlich, das Chaos, sagt sie, die unverbundenen Elemente in der Natur und in uns. Die barbarischenTriebe, die, mehr als wir es wissen, unsre Handlungen bestimmen. Gräßlich wahr – das könne sie sich denken.
    Solche Wörter. Nie würden die Älteren sie in einen Satz stecken.
    Beide denken den gleichen Namen: Goethe.
    Das Gräßlichste, sagt Kleist, ist doch jener innere Befehl, der mich zwingt, gegen mich selbst vorzugehn.
    Und die Günderrode erwidert, wie man eine Gedichtzeile zitiert: Was mich tötet, zu gebären.
    Er kann nicht wissen, daß sie solche Zeilen geschrieben hat.
    Günderrode! Den Satz nehmen Sie zurück.
    Nicht, Kleist. Man kann kein Wort zurückholen.
    Was hat doch Wedekind ihm nahegelegt? Maßhalten, Selbstbesinnung, auch Bescheidung. Nicht dieser Aufruhr. Nicht die eiskalten Hände, das Klopfen des Pulses in den Schläfen. Nicht diese heikle Lust an der Gefahr. Nicht wieder diese zügellose Hoffnung: All das nicht, was ihn zu dem macht, der er ist. Verloren, Wedekind. Daraus wird nichts.
    Günderrode, sagt er, aber ist es uns nicht geboten, innezuhalten, eh sich solche Sätze in uns bilden!
    Ja, sagt die Frau. Das ist uns geboten.
    Und?
    Und wir müssen das Gebot übertreten.
    Warum?
    Das weiß man nicht.
    Vögel gibt es hier, die unter entsetzlichem Geschrei aus einer hohen Weide aufstieben, als sie vorübergehn. Kleist erschrickt. Die Günderrode legt ihm ihre Hand auf den Arm. Sie wissen, daß sie nicht berührt werdenwollen. Zugleich spüren sie ein Bedauern, ein Mitleid mit der unterdrückten Sprache ihrer Körper, eine Trauer über die allzu frühe Zähmung der Glieder durch Uniform und Ordenskleid, über die Gesittung im Namen des Reglements, über die heimlichen Exzesse im Namen seiner Übertretung.
    Muß man erst außer sich sein, um das Verlangen zu kennen, die Kleider herunterzureißen und sich auf dieser Wiese zu wälzen.
    Einmal, es war auf dem schmählichen Rückweg von der französischen Küste, als selbst die Aussicht auf den Tod sich zerschlagen hatte, ist Kleist um Mitternacht, müde, doch mit überscharfen Sinnen, durch ein flachwelliges Gelände gegangen. Wenn er in der Senke war, lagen die Hügel um ihn wie die Rücken großer warmer Tiere, er sah sie atmen, er stand still und fühlte den Herzschlag der Erde unter seinen Fußsohlen, und er nahm seine Kräfte zusammen, um dem Anblick des Himmels standzuhalten, weil die Sterne – nicht als Lichter, als die er sie sonst gesehn hatte – in ihrer funkelnden ungeheuren Körperlichkeit auf ihn herabzustürzen drohten. Er vergaß sich, ohne sich aufzugeben, er lief lange und sah endlich rechterhand die Morgenlichter eines Dorfes, er klopfte an eine Tür, eine Frau öffnete ihm, ihr Gesicht schien ihm schön im Kerzenschein, sie ließ ihn ein, stumm stellte sie ihm eine Schüssel Milch auf den rohen Tisch und wies ihm ein Strohlager an, er streckte sich aus und hatte an Leib und Gliedern erfahren, was Freiheit ist, ohne daß das Wort ihm ein einziges Mal in den Sinn gekommen war. Ein Maß war ihm gesetzt, das zu erfüllen er anstreben mußte, eine Verheißung, daß es im Menschen, auch in ihm lag, eine Gangart zu finden,die
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