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Kein Ort - Nirgends

Kein Ort - Nirgends

Titel: Kein Ort - Nirgends
Autoren: Christa Wolf
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gefallen, abends nach einer einfachen Arbeit müde mit Menschen um einen Tisch zu sitzen. Die Wärme. Die Nähe der andern.
    Er sagt, der abendliche Tisch sei es nicht gewesen, nicht der Lichtkreis der Kerze. Ein Stuhl war es, den er bei Wedekind gesehn, so als hätte er niemals vorher einen Stuhl wirklich betrachtet. Ein schönes Stück, gediegen, dauerhaft. Da schien es mir so natürlich, sagt er, Geschick und Kraft und Fleiß an die Herstellung solcher Möbel zu wenden, deren Nutzen außer Frage steht.
    Ja, sagt die Günderrode, das ist wohl verständlich, daß wir dem Zwang, dem wir unterstellt sind, in Gedanken wenigstens zu entfliehen trachten. In der Wirklichkeit ist es uns nicht erlaubt.
    Nahm sie ihn nicht ernst genug? Oder zu ernst? Undwas gab ihr das Recht, sie beide, sich und ihn, in dem Worte ›wir‹ zusammenzufassen?
    Die Bettine, die alle Leute zu kennen scheint, zwischen den Gruppen hin und her läuft, holt sie ein, fragt in ihrer mutwilligen Laune, was sie sich wünschen würden, hätten sie drei Wünsche frei. Die Günderrode lacht: Ich sag’s dir später. – Sie wußte keinen, ihre Wünsche sind unbegrenzt.
    Kleist? Und Sie?
    Kleist sagt: Freiheit. Ein Gedicht. Ein Haus.
    Unvereinbares, das Sie vereinbaren wollen.
    Ja, sagt er leichthin. Ich weiß.
    Die Bettine verspricht einen überaus schönen Sonnenuntergang. Sie bestürmt Clemens, dem sie die Gitarre nachgetragen hat, ihnen etwas zu singen. Gut, sagt der, ein einziges Lied, sein neuestes. Gewidmet sei es Tian, der schönen Dichterin. Er singt:
    Süßer Maie, Blütenjunge,
    Bring ihr blühnde Friedenszweige,
    Bitte sie mit süßer Zunge,
    Daß sie dir die Blume zeige
    Der sie gerne mag vertrauen
    In den Busen ihr zu blicken.
    Und dann will ich auf den Auen
    Einen lieben Kranz ihr pflücken,
    Will die Blumen sprechen lehren:
    Wolle Huld der Schuld gewähren,
    Die schon harte Straf erlitten.
    Ein Zauber geht von Clemens aus, der mit seinen Unarten versöhnt, selbst wenn sie weiß, daß er es darauf anlegt.Kniend überreicht er ihr einen Zweig, sie duldet es, spielt die gnädige Herrscherin. Man applaudiert, fordert neue Lieder. Kommen Sie, Kleist, sagt die Günderrode, nimmt seinen Arm und zieht ihn stromaufwärts, während die übrige Gesellschaft den rechten Uferweg einschlägt.
    Gleich reut es sie. Sie hätte den Impuls unterdrücken sollen. Er würde auch lieber allein gehn. Er verwünscht seine Dressur, die ihn hindert, sich zurückzuziehn, wenn er will. Wozu diese wüsten Wintermonate in Mainz, wenn sie ihm das bißchen Freiheit gegen andre nicht gegeben haben.
    Die Günderrode sagt zu sich selbst, doch so, als erwidere sie ihm: Ja, es sei ihre schwerste Erfahrung, daß zerstörbar in uns nur ist, was zerstört sein will, verführbar nur, was der Verführung entgegenkommt, frei nur, was zur Freiheit fähig ist; daß diese Erkenntnis sich in einer ungeheuren Weise vor dem, den sie betrifft, verbirgt, und daß die Kämpfe, in denen wir uns ermatten, oft Scheingefechte sind.
    Es durchfährt Kleist, ob er um einen simplen Irrtum so könnte gelitten haben. Gewöhnt, grausam gegen sich zu sein, macht ihm der Gedanke eine ingrimmige Freude, gern würde er ihm nach allen Richtungen hin nachhängen. Dies wäre einmal eine Idee, die einen Menschen umbringen könnte, der sie sich nur recht zu Herzen nähme; aber da ist das Fräulein und sieht ihm entgegen, geschickt in die Landschaft gestellt, billige Regie, mißlich und ärgerlich.
    Kleist will kein Hehl daraus machen, wie er die Einrichtung durchschaut. Dann stört ihn schon wieder, daß er für die mindeste Regung einen Entschluß nötig hat. Diewahren Handlungen entspringen der Seele unmittelbar, ohne den Kopf zu passieren, doch zu ihnen ist er nicht fähig, das hat er oft bis zur Erschöpfung mit Pfuel erörtert.
    Jetzt versteht er plötzlich seine immerwährende Müdigkeit. Ein Vergleich fällt ihm ein: Eine Maschine, die auf höchste Touren gebracht und zugleich gebremst wird. Der Verschleiß muß erheblich sein, sogar berechenbar. Es ist, sagt er, höchst merkwürdig, wie man einer Denk- art, die man für verkehrt erkannt, doch immer wieder unterliegt und die Gewalt nicht aufbringt, den Karren aus der gewohnten Bahn zu reißen. Manchmal komme eine äußere Erschütterung dem festgefahrenen Kopf zu Hilfe, wie es ihm vor einigen Jahren in Butzbach passiert sei, als die Pferde seiner Kutsche, durch das Geschrei eines Esels hinter ihnen erschreckt, durchgegangen seien und ihn und seine
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