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Kein Ort - Nirgends

Kein Ort - Nirgends

Titel: Kein Ort - Nirgends
Autoren: Christa Wolf
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von der Schuldigkeit zu befreien. So widersprechen sich in mir Handlung und Gefühl . . .
    Ihre Schwester, sagt man, habe Sie in Männerkleidern bis nach Paris begleitet.
    Er ist außerstande, das tiefere Interesse hinter den Fragen der Günderrode wahrzunehmen. Sie ist wie alle. Sensationen, nichts andres. Ulrike, das arme Mädchen. Die Günderrode liest ihm seine Gedanken ab und fühlt sich rot werden. Sie verbirgt ihm den Unwillen nicht, den er verdient, als er jenes oft bewährte Stückchen zum besten gibt, in dessen Mittelpunkt Ulrike steht: Wie sie in Paris, wo niemand sonst sie in ihren Männerkleidern als Frau erkannt, von einem blinden Musiker, dem sie über sein Spiel ein Kompliment gemacht, mit Madame angesprochen wird und danach fluchtartig mit ihm den Saal verlassen muß.
    Die Günderrode lacht nicht. Selten ist sie neidisch, jetzt ist sie’s.
    Ihre Schwester möchte ich kennen.
    Kleist weiß nicht: Soll er verletzt sein? Er verlangt den Grund für diesen Wunsch zu wissen.
    Der Günderrode ist es einerlei, ob sie mit einem engstirnigenoder mit einem großmütigen Menschen spricht. Sie sagt, nach ihrer Beobachtung gehöre zum Leben der Frauen mehr Mut als zu dem der Männer. Wenn sie von einer Frau höre, die diesen Mut aufbringe, verlange es sie danach, mit ihr bekannt zu sein. Es sei nämlich dahin gekommen, daß die Frauen, auch über Entfernungen hinweg, einander stützen müßten, da die Männer nicht mehr dazu imstande seien.
    Das muß sie ihm schon näher erklären.
    Ach Kleist, Sie wissen es doch. Weil die Männer, die für uns in Frage kämen, selbst in auswegloser Verstrickung sind. Ihr werdet durch den Gang der Geschäfte, die euch obliegen, in Stücke zerteilt, die kaum miteinander zusammenhängen. Wir sind auf den ganzen Menschen aus und können ihn nicht finden.
    Jetzt schweigt der Mann. Soll eine Frau so sprechen? Was zwingt ihn denn, mit dieser hier, die er ein einziges Mal in seinem Leben sieht, über die Bestimmung ihres und seines Geschlechts zu reden? Über seinen verborgensten Selbstzweifel, sein peinlichstes Versagen? Der Punkt, der unaussprechlich bleibt?
    Was die Ulrike betrifft, mag das Fräulein Günderrode, einfühlsam, wie Frauen sein können, einen richtigen Instinkt haben. Doch er vermeidet es und wird es weiter vermeiden, dem Mut, ja Übermut, den die Schwester allerdings öfter bewies, tiefer nachzugehen. Er weiß nichts andres und will nichts andres wissen, als daß auf dem Grund ihrer Seele das Bild des Bruders ist, an dem sie Mutterstelle vertrat, den sie mit einer ausschließlichen, besitzergreifenden Liebe liebt und der, sie will es – oder er? –, in ihrem Leben der einzige Mann bleiben soll. Rücksichtslos, er? Und wenn seine Rücksichtnahmesie beleidigen würde? Alles, beinahe alles, was sie sagt und tut, paßt in das Bild der Schwester, die an ihrer Aufopferung für den Bruder Genüge findet. Die, nicht begütert, nicht überaus anmutig, nicht auffallend charmant und weiblich – unähnlich der Frau, die an seiner Seite geht –, kaum hoffen kann, sich gut zu verheiraten. Die aber auch, soviel Kleist weiß, an dieser Hoffnung niemals sehr gehangen hat.
    Dies der unauflösbare Rest, der in den Umriß nicht paßt und über den sie sich mit keinem Wort, nicht einmal mit einem Blick verständigen müssen oder dürfen. Er nicht ganz Mann, sie nicht ganz Frau . . . Was heißt denn das. Geschwisterliebe, über die das Menschenwesen die Hände hält. Duldet, indem es nicht wahrnimmt, was in abgrundtiefer Stummheit das Blut da treibt. Wohltat der Blutsverwandtschaft, ungedachter Gedanke. Verwandtschaft, welche die Fassungslosigkeit vor dem fremden Geschlecht mildert, dem man sich nicht ausliefern kann.
    Kleist hat Gründe für den Verdacht, daß Ulrike auch in der Blütezeit seines Verlöbnisses mit diesem Fräulein von Zenge – ersehnte Sicherheit in der Konvention! – über das Scheinhafte der Verbindung im geheimen Einverständnis mit ihm gewesen, das ihm ebenso lästig war wie ihr unaufhörliches Drängen, sein Versprechen gegen die Verlobte endlich einzulösen. Wer uns am besten kennt, trifft am genauesten. Allerdings: Nicht dieses Drängen, das ihnen den Pariser Aufenthalt noch mehr vergällte, hat ihn bis zur Raserei gegen sie aufgebracht; ihn erbitterte, daß er ihr die Komödie nicht durch ein offenes grobes Wort zerfetzen konnte.
    Weiber.
    Was Sie eben gedacht haben, das haben Sie vorher nicht gewußt, nicht wahr.
    Was haben Sie mit mir vor?
    Er blickt um
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